Haus der Sünde
Mann, der ihr aus tiefster Seele Leid tat, kam von sich aus nicht auf die Idee, ihr irgendwelche Informationen über sich zu liefern. Wahrscheinlich, so vermutete sie jedenfalls, war er viel zu erschöpft und durcheinander, um zu verstehen, dass eine Erklärung jetzt nicht unangebracht gewesen wäre.
Sie entschloss sich also, ihn für den Moment in Ruhe zu lassen.
»Milch und Zucker?«, fragte sie.
Statt einer direkten Antwort, wie sie das erwartet hatte, schien der Fremde sehr lange nachdenken zu müssen, wie er seinen Tee mochte. Er ballte die Fäuste, presste sie auf seine Oberschenkel und starrte einige Sekunden lang ins Leere. Dann schaute er zu Claudia auf, wobei sein attraktives Gesicht größte Verwirrung widerspiegelte.
»Ich weiß nicht«, erwiderte er schließlich und schüttelte den Kopf, sodass seine weichen Locken hin und her tanzten.
Claudia starrte ihn an. Eine beunruhigende Vorahnung ergriff sie. Konnte es sich wirklich darum handeln? Konnte dieser hinreißende junge Mann, der so durcheinander war, tatsächlich das Opfer von etwas derart Grundsätzlichem und Beängstigendem sein?
»Versuchen Sie es mal mit Milch und warten Sie ab, wie es Ihnen schmeckt«, sagte sie, goss Milch in die erste Tasse mit Tee und reichte diese dem Fremden. Während sie ihn dabei beobachtete, wie er einen Schluck nahm und zufrieden seufzte, als ob dies der erste gute Tee wäre, den er seit einer halben Ewigkeit vorgesetzt bekommen hatte, wanderten Claudias Gedanken in die Jahre ihrer Kindheit und zu einem Vorfall zurück. Damals hatte sie zum ersten Mal versucht, reiten zu lernen.
Sie hatte sich auf dem Rücken von Pferden von Anfang an zu Hause gefühlt. Doch das war in diesem Fall auch fatal gewesen. Weil sie sich übermäßig sicher vorkam, war sie eines Nachmittags vom Pferd geworfen worden und mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen. Zum Glück war sie ohne eine schwerere Verletzung davongekommen, doch während höchst beängstigender vierzehn Tage hatte sie nicht die geringste Ahnung gehabt, wer sie wirklich war und welch ein Leben sie vor dem Sturz geführt hatte. Sie hatte jedoch Glück gehabt und nach diesen zwei furchtbaren Wochen war sie eines Morgens aufgewacht und konnte sich auf einmal wieder an alles erinnern.
Sie nahm einen Schluck Tee und beobachtete den Fremden, wie er seine Tasse mit beiden Händen umfasste und hineinstarrte. Er sah aus, als könnte er eine tiefe, ewige Wahrheit in der English-Country-House-Mischung erkennen. Auf einmal kam ihr eine Idee: Hatte die hässliche Verletzung an seiner Schläfe, die nun von den hübschen Locken fast verdeckt wurde, etwas damit zu tun?
Hatte der schöne Mann vom Fluss tatsächlich sein Gedächtnis verloren?
Und falls dies der Fall sein sollte, wie konnte sie ihm dann helfen?
Ihm helfen? Machst du Witze? Du willst dich doch nur auf ihn stürzen und ihn vernaschen!
Claudia schreckte einerseits vor ihren eigenen lüsternen Gedanken zurück, andererseits genoss sie diese geradezu. Sie starrte auf die langen Beine des Mannes in der verknitterten, grauen Hose. Seine Schenkel wirkten kräftig und geschmeidig; sie hatte sie gesehen. Und das Geschlecht in seinem Schoß war höchst vital und verführerisch.
O Gott, das kam alles so plötzlich! Sie hatte diesen Tag ganz normal begonnen – ohne ein allzu schlechtes Gefühl wegen der Tatsache, nun eine Witwe zu sein. Und auf einmal hatte sie sich in ein Raubtier verwandelt, das auf seine Beute lauerte. Zumindest so ähnlich. Und dieser hübsche, verwirrt aussehende Fremde in seiner seltsam altmodisch wirkenden Aufmachung war der Auslöser gewesen. Sie wagte kaum aufzuschauen, da sie spürte, dass er sie genau betrachtete.
Was zum Teufel! Ihre Augen trafen sich. Sie hatte Recht gehabt: er sah sie tatsächlich an.
»Sie sind sehr freundlich«, sagte er und lächelte ihr zu. Wie zuvor warf sie dieses Lächeln schier um. »Der Tee ist ausgezeichnet. Genau das, was ich gebraucht habe. Ich … Ich wusste gar nicht, wie gern ich Tee trinke.« Seine strahlenden Augen verdüsterten sich, und er machte erneut den Eindruck, als denke er angestrengt nach.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Claudia. Sie stellte ihre Tasse ab, stand auf und ging auf ihn zu – wie ein Falter, der von einer strahlenden Kerzenflamme unwiderstehlich angezogen wird. »Mir ist aufgefallen, dass Sie eine Verletzung am Kopf haben. Leiden Sie unter Kopfschmerzen?«
Sie setzte sich neben ihn auf das Sofa und schob, ohne auch nur einen
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