Haus des Glücks
den Eindruck, als hätte es sie Mühe gekostet, sich ein Lachen zu verkneifen. Unter dem Foto stand in verblasster Tinte die Jahreszahl 1886 . Victoria. Ihre Ururgroßmutter. Sie sah Oma sehr ähnlich. »Eine schöne Frau«, sagte sie und konnte sich kaum von dem Gesicht und den eindrucksvollen, lebendigen Augen losreißen. »Warum zeigst du mir das Bild?«
»Weil meine Großmutter auch Ärztin werden wollte«, erklärte Oma Lotte und sah Julia über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Natürlich war das damals eine ganz andere Zeit.« Sie blätterte eine Seite weiter. »Hier ist ein Foto von ihrer Hochzeit mit John Seymour. Das war 1890 .«
Diesmal saß Victoria auf einem Stuhl, einen Strauß Rosen im Arm, schräg hinter ihr stand ein junger, dunkelhaariger Mann. Seine Hand lag auf ihrer linken Schulter. Beide sahen ernst aus, und erneut machte sie den Eindruck, als hätte sie am liebsten laut gelacht.
»Und? Hat sie Medizin studiert?«
Oma Lotte schüttelte den Kopf. »Nein. Wie gesagt, die Zeit damals war anders. Frauen durften nicht ohne weiteres studieren, schon gar nicht hier in Hamburg. Aber das hat sie nicht abgehalten.« Sie nahm ihre Brille ab und schaute versonnen in die Ferne. »Victoria Seymour war keine gewöhnliche Großmutter. Sie hat viel und gern gelacht und immer nach Lavendelseife und Desinfektionsmittel gerochen. Ich kann mich noch genau daran erinnern. Wenn wir sie besucht haben, konnte es sein, dass sie das Kaffeetrinken mittendrin abbrechen musste und aufgestanden ist, weil man sie zu einer Frau rief, die in den Wehen lag, oder weil sich jemand auf einer der Plantagen verletzt hatte. Meine Mutter sagte immer, dass Oma Victoria die Eingeborenen wichtiger seien als ihre eigene Familie. Aber das stimmte nicht. Ich weiß noch, wie sie am Hafen gestanden und geweint hat, als wir Samoa verlassen haben.«
Julia verschluckte sich am Tee. »Samoa?«
Ihre Großmutter nickte. »Ich bin dort geboren worden. 1936 sind wir nach Deutschland zurückgekehrt. Sag bloß, das wusstest du nicht.«
Julia schüttelte den Kopf.
Samoa!
Das klang nach Südseezauber, Palmen, weißen Stränden und einem Meer voller Korallen und bunter Fische. Dabei hätte sie nicht einmal genau sagen können, wo sie die Insel auf der Landkarte suchen sollte.
Oma Lotte seufzte. »Meine Mutter, also deine Uroma, hat sich die größte Mühe gegeben, die Erinnerungen an diese Zeit auszulöschen. Die Fotos und alle Erinnerungsstücke hat sie in einer fest verschlossenen Kiste aufbewahrt, und ich durfte nicht einmal mehr von der Insel sprechen. Ich glaube, das wohlgeordnete Leben hier in Deutschland gab ihr die Sicherheit und Geborgenheit, die sie in der Südsee vermisst hatte. Sie hat sich dort nie wohl gefühlt. Ich weiß noch, wie sie vergeblich versuchte, der Köchin dort beizubringen, das Mittagessen pünktlich um zwölf auf den Tisch zu bringen!« Sie lächelte. »Irgendwann hat Vater ihrem Drängen schließlich nachgegeben. Wir haben unsere Sachen gepackt und sind fortgegangen. Ich habe Samoa geliebt und mich immer nach der Sonne und dem türkisblauen Meer gesehnt. Wahrscheinlich kommt daher mein Fernweh. Zum Glück habe ich einen Kapitän geheiratet!« Sie nahm ihre Brille ab und sah auf die Elbe hinaus. »Nimm das Fotoalbum und das Tagebuch mit. Vielleicht hilft es dir.«
»Danke, Oma«, Julia warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss jetzt leider gehen, es ist schon kurz nach zwölf.«
»Natürlich, min Deern, du sollst die Lütten nicht warten lassen.«
Nein. Auch die Kinder litten unter ihren ständigen Streitereien mit Marco. Obwohl sie sich Mühe gaben, ihre Auseinandersetzungen erst auszutragen, wenn die drei bereits im Bett waren, gingen die Spannungen zwischen ihren Eltern nicht spurlos an ihnen vorüber.
Oma Lotte verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Wange. »Lass den Kopf nicht hängen, Julia«, sagte sie, als sie schon an der Haustür standen. »Marco liebt dich, und du liebst ihn. Ihr werdet eine Lösung finden, mit der ihr beide leben könnt. Davon bin ich überzeugt.«
Am Abend, als die Kinder im Bett waren, saßen Marco und Julia im Wohnzimmer. Er saß in seinem Sessel und las die Tageszeitung, während sie versuchte, Victoria Seymours steile, kleine Handschrift zu entziffern. Für Außenstehende mochten sie ein friedliches Bild abgeben. Aber sie beide wussten, dass sie sich noch nicht versöhnt hatten. Es war ein befristeter Waffenstillstand, weil der gestrige Streit ihnen noch immer in den Knochen
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