Haus des Glücks
steckte. Keiner war von seinem Standpunkt abgewichen. Sie waren lediglich zu erschöpft, um weiterzukämpfen.
Nach einer Weile faltete Marco seine Zeitungen zusammen. »Ich bin hundemüde«, sagte er und stand auf. »Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen. Ich gehe jetzt ins Bett. Kommst du auch?«
Julia schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte noch ein bisschen lesen. Ich habe mich gerade an die Schrift gewöhnt.«
»Was ist das denn für ein Buch? Es sieht alt aus.«
»Es ist das Tagebuch meiner Ururgroßmutter. Oma Lotte hat es mir gegeben.«
Sie vertiefte sich wieder in ihre Lektüre. Erst als die Wohnzimmertür ins Schloss fiel, kam ihr der Gedanke, dass Marco vielleicht doch noch das Gespräch mit ihr gesucht hatte. Nur eine harmlose Unterhaltung. Sie hätte ihm von Victoria Seymour erzählen können oder dass Oma auf Samoa geboren worden war. Irgendetwas Belangloses. Unter Umständen wären versöhnliche Worte gefallen. Doch als Julia aufsah, war er bereits fort.
Die Gelegenheit hast du verpasst,
dachte sie.
Jetzt ist es zu spät. Wenigstens für heute. Das kannst du frühestens morgen ausbügeln.
Erneut widmete sie sich dem Tagebuch. Zum einen trieb sie die Neugierde. Es war faszinierend, in die Gedankenwelt einer Frau einzutauchen, die ihr auf nahezu unheimliche Weise vertraut war, obgleich sie mehr als ein Jahrhundert voneinander trennte. Zum anderen half ihr die Lektüre, das schlechte Gewissen zu betäuben, das an ihr nagte.
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Victoria
3
Frühjahr 1886
Z usammengekauert und mit angezogenen Beinen saß Victoria im Lesesessel ihres Vaters. Eine solche Haltung war einer jungen Dame, die erst vor wenigen Tagen die Höhere Töchterschule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte und beim anschließenden Debütantenball in die Hamburger Gesellschaft eingeführt worden war, unwürdig. Aber das kümmerte Victoria nicht. Sie war ohnehin allein in der Bibliothek – unerlaubterweise, denn eigentlich war dieser Raum für sie und ihre Schwester Johanna tabu. Selbst Mutter kam nur herein, um zu lüften, nach dem Rechten zu sehen, Ordnung zu schaffen oder das Hausmädchen beim Staubwischen zu beaufsichtigen. Es war das Reich der Herren, die Domäne ihres Vaters und seiner regelmäßigen Gesprächsrunden mit ärztlichen Kollegen oder den Mitgliedern des Clubs. Victoria liebte die Bibliothek: den Geruch nach Pfeifentabak, Leder und Möbelpolitur, das gedämpfte Licht, die Stille. Nur die kleine Uhr auf dem Schreibtisch tickte leise vor sich hin, und manchmal knarrte eine Diele unter dem Gewicht der bis zum Bersten gefüllten Regale. Schwere Vorhänge schützten die empfindlichen Bücher vor dem Sonnenlicht, denn das Papier konnte vergilben, die Ledereinbände brechen. Vor einem der Fenster stand ein bequemer Sessel, daneben ein kleiner Tisch mit einer Lampe. Abends, wenn er seine Patienten der Obhut der Schwestern überlassen hatte, saß Doktor Gotthard Bülau dort und studierte die Tageszeitung, eine medizinische Fachzeitschrift oder las in einem der Werke seiner umfangreichen Sammlung.
Die Damen des Hauses hatten ihren eigenen Bücherschrank im Salon. Er war angefüllt mit Zeitschriften und Romanen, die sich um Themen wie Handarbeiten, Garten, Familie und Haushalt drehten. Erbauliche Lektüre für Frauen, die ihren Verstand weder verwirren noch in Aufruhr versetzen konnte. Diese Ansicht teilten auch ihre Eltern, und sie ermunterten ihre Töchter, sich aus diesem Schrank zu bedienen. Victoria fand die Geschichten über sittsame, fleißige Mädchen, die in Pfarrhäusern auf dem Land ihre hauswirtschaftliche Ausbildung vervollständigten und am Ende den Sohn des reichen Kaufmanns ehelichten, zum Gähnen langweilig. Im Gegensatz zur Bibliothek ihres Vaters. Deren Schätze hatte sie zufällig beim Versteckspielen mit Johanna entdeckt. Sie konnte sich noch an den Schauer erinnern, hervorgerufen durch den Anblick der bis zur Decke reichenden Regale, und an das Gefühl, als sie einen der kostbaren Lederfolianten herausgezogen und aufgeschlagen hatte:
Alexander von Humboldts Reisebeschreibungen.
Ein Gefühl, als würden sich nach Jahren der Gefangenschaft die Zellentüren vor ihr öffnen und ihr endlich den Blick auf die Welt freigeben, wie sie wirklich war – unerschöpflich, prachtvoll, wunderbar. Gefolgt waren Ernüchterung und Zorn angesichts der Ungerechtigkeit, dass ihr als Mädchen der Zugang zu dieser Herrlichkeit verwehrt war. Damals war sie elf Jahre alt gewesen.
Seither schlich sie sich in die
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