Haus des Glücks
Bibliothek, sobald sich die Möglichkeit dazu bot. Hier fand sie alles, was sie suchte – aufregende und skandalöse Romane, philosophische Werke, medizinische Fachbücher mit interessanten Zeichnungen, wissenschaftliche Traktate und Tageszeitungen. In den vergangenen fünf Jahren hatte sie heimlich Darwin, Bebel und Nietzsche, Strindberg und Ibsen, Abhandlungen über Mathematik, Poetik und die menschliche Anatomie gelesen. Sie las, was auch die Herren lasen; mit dem winzigen Unterschied, dass ihre Lektüre mit dem unwiderstehlichen Geschmack der verbotenen Frucht gewürzt war.
»Victoria!«
Sie fuhr erschrocken zusammen. Dabei glitt ihr das
Ärzteblatt
aus den Händen, die Seiten fielen auseinander und verteilten sich um sie herum auf dem Boden. Einen Augenblick saß sie wie erstarrt da.
»Wo bist du?«
Natürlich wusste Johanna Bescheid. Wenn sie auch das Interesse ihrer älteren Schwester nicht teilte, so kannte sie doch ihr Geheimnis und war ihre wertvollste Verbündete. Ihre Stimme schrillte so laut durch das Haus, dass vermutlich sogar die Mäuse im Spitzboden erschrocken in ihre Löcher huschten. Das konnte nur eines bedeuten: Gefahr! Johanna wollte sie warnen. Ob Mutter früher als gewöhnlich nach Hause gekommen war? Oder Vater? Sie sprang auf und suchte nach ihren Schuhen, die sie vorhin beim Abstreifen kurzerhand von sich geschleudert hatte. Jetzt rächte sich diese Nachlässigkeit. Sie fand den ersten direkt neben dem Sessel und zwängte den Fuß, auf einem Bein balancierend, hinein.
Wieder gellte Johannas Stimme in der Eingangshalle.
»Victoria, du hast Besuch!«
Besuch?
Sie hörte Schritte auf der Treppe nach oben, während sie hastig in ihrem Gedächtnis nach einer vergessenen Verabredung forschte. Aber da war nichts.
»Bist du in deinem Zimmer?«
Über ihr knarrten die Dielen.
Wäre Mutter zu Hause gewesen, hätte sie Johanna sofort wegen ihres unschicklich lauten Schreiens gerügt. Ihre Stimme klang ihr im Ohr, wie sie vorwurfsvoll und auch ein bisschen traurig den Satz verlauten ließ, den sie mindestens zehnmal täglich wiederholte: »Kind, du benimmst dich wie ein Bierkutscher. So wird nie ein junger galanter Herr aus guter Familie um deine Hand anhalten.« Dennoch hatte sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ihre Töchter zu respektablen Mitgliedern der Hamburger Gesellschaft zu erziehen.
Auf Händen und Knien kroch Victoria auf den Teppichen herum, um nach dem zweiten Schuh zu suchen und gleichzeitig die weit verstreute Zeitung einzusammeln. Sie zitterte vor Aufregung, ihr Herz klopfte bis zum Hals. Bevor Vater nach Hause kam, musste sie die Seiten ordnen, glätten und sorgfältig falten. Er würde sonst merken, dass noch jemand außer ihm in der Familie die medizinischen Zeitschriften las.
»Victoria, Wilhelmine ist da!«
Sie stöhnte auf. Ausgerechnet. Ihr Besuch war weder geplant noch erwünscht. Wilhelmine Petersen war eine Klassenkameradin aus der Höheren Töchterschule und wahrlich keine Freundin. Sie mochte das Mädchen nicht. Sie war eine überhebliche Klatschbase, die ihre neugierige Schweinchennase in alle Angelegenheiten steckte, die sie nichts angingen. An niemandem ließ sie ein gutes Haar, und obwohl ihre Mutter die Tochter eines einfachen Krämers aus Quickborn war, tat sie besonders vornehm. Sie war so dumm, dass sie den Schulabschluss nur wegen der Milde und Güte der Lehrer bestanden hatte, die ihrem Großvater, einem hochangesehenen ehemaligen Hamburger Bürgermeister, die Schande ersparen wollten. Nur im Herausfinden der wunden Punkte ihrer Mitschülerinnen erwies sie sich stets als äußerst geschickt und intelligent.
Erneut erklangen Schritte auf der Treppe, diesmal kamen sie nach unten. Kurz darauf hörte Victoria ihre Schwester nebenan im Salon. So sorgfältig es ihre Eile zuließ, legte sie die Seiten ineinander. Die Zeitschrift war fast vollständig, allerdings fehlte die Titelseite. Ihre Hände zitterten vor Nervosität. Teile des Innenlebens oder fehlende Beilagen würden Vaters Argwohn nicht erregen. Schon oft hatte er sich über die mangelnde Genauigkeit in der Druckerei beklagt. Aber dass die Arbeiter ausgerechnet das Titelblatt vergaßen, war kaum glaubhaft. Und der verflixte Schuh blieb ebenfalls verschwunden.
In der allmählich aufkommenden Panik sah sie sich um. Sie spürte das Vibrieren des Parketts, während sie bäuchlings auf dem Boden lag, um nach den beiden vermissten Gegenständen zu suchen. Johanna und Wilhelmine würden jeden
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