Haus des Glücks
Augenblick hier sein.
Erleichtert zog Victoria die fehlende Seite unter dem Sessel hervor und legte sie zu den anderen.
Das war also der freie Nachmittag, auf den sie sich bereits die ganze Woche gefreut hatte!
Mutter war zum Teekränzchen bei Frau Oberstudienrätin Jansen eingeladen und somit vor sechs Uhr nicht zu erwarten, und das Hausmädchen hatte ihren freien Tag. Victoria war gerade dabei, Latein zu lernen, und hatte sich erneut mit einem Band über Grammatik beschäftigen wollen, doch vorerst hatte sie aus Gewohnheit das
Ärzteblatt
aufgeschlagen. Ein Artikel hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Nicht unbedingt, weil sie das Thema interessierte, sondern weil er von einer Frau, Dr. Franziska Tiburtius, verfasst worden war. Victoria hatte zwar kaum etwas vom Inhalt verstanden, trotz alledem aber jedes einzelne Wort verschlungen. Zwischen den Zeilen über die Funktion der Oberbauchorgane hatte sie zu träumen angefangen: Die Studentinnen an der Universität in Zürich bewiesen, dass sie das Gleiche leisten konnten wie ihre männlichen Kollegen. Das musste die Verantwortlichen doch irgendwann überzeugen! Und dann würden in allen Städten Frauen dieselbe Hochschulausbildung erhalten wie Männer. Auch in Berlin. Oder hier in Hamburg. Vielleicht sogar schon bald. Dann würde sie auch Ärztin werden, wie ihr Vater und ihr Großvater.
Ob Vater sich darüber freuen würde?
Paul wollte bestimmt nicht Medizin studieren, beim Anblick von Blut wurde er kreidebleich. In ihm lebte die kaufmännische Seele aus Mutters Familie. Frau Doktor Victoria Bülau. Das klang wunderbar und war viel spannender als Wilhelmines Klatsch und Tratsch. Aber sie konnte sie kaum fortschicken, ohne sie zu brüskieren oder ihre Neugierde zu erregen. Jetzt nicht mehr. Johanna hingegen hätte die Möglichkeit gehabt.
Sie
hätte Wilhelmine nur an der Tür zu sagen brauchen, dass sie nicht im Hause wäre. Das war ein Punkt, über den sie mit ihrer Schwester noch ausführlich reden musste.
»Victoria! Wo steckst du denn?«
Die Schritte entfernten sich, und kurz darauf hörte sie die Stimmen der beiden Mädchen auf der Veranda. Es war gewiss nicht leicht, den ungebetenen Besuch auf immer neuen Wegen durch das Haus und an der Bibliothek vorbeizuführen. Sie legte das
Ärzteblatt
auf den Schreibtisch unter die Tageszeitung. Sollte Wilhelmine herausfinden, dass Victoria heimlich medizinische Bücher und Zeitschriften anstelle von
Kladderadatsch
oder
Gartenlaube
las, würden es bald alle Freundinnen und ehemaligen Klassenkameradinnen wissen, danach die Mütter und letztlich auch ihr Vater. Er war ohnehin misstrauisch geworden, seit sie vor ein paar Tagen unvorsichtigerweise in seiner Gegenwart Robert Koch und die Choleraerreger erwähnt hatte.
Aber wie sollte sie ihre Anwesenheit in der Bibliothek erklären?
»Victoria? Bist du hier drin?«
Da war der fehlende Schuh! Er lag direkt neben dem Lesetisch, auf dem sich die Bücher stapelten, und tat, als hätte er schon immer dort gelegen.
»Ja!«
Einen Augenblick noch Johanna, ich bin gleich so weit! Nur eine Minute!
Sie griff nach einem Band und zog sich gleichzeitig den Schuh über. Auf einem Bein hüpfte sie zum Lesesessel zurück. Ihr blieb gerade noch genug Zeit, das Buch aufzuschlagen und sich in den Sessel fallen zu lassen, bevor sich die schwere Tür langsam und zögernd öffnete.
»Guten Tag!« Wilhelmine ging wie selbstverständlich an Johanna vorbei. Es bereitete ihr sichtlich Vergnügen, den verbotenen Raum zu betreten. Aufgeregt schwenkte sie ihren kleinen roséfarbenen Sonnenschirm hin und her und spitzte die Lippen. »Störe ich dich gerade?«
Victoria antwortete nicht. Sie konnte ihren Blick nicht von Wilhelmines Hut abwenden, einem abscheulichen Ungetüm, dessen mattbraune Farbe sie unweigerlich an Hafenschlick erinnerte. Auf der ausladenden Krempe hatte der Hutmacher eine ganze Rabatte von chinesischen Seidenblumen untergebracht. Der Hut musste ein kleines Vermögen gekostet haben, trotzdem fand Victoria ihn unsagbar hässlich.
»Entschuldige, dass ich dich so überfalle«, fuhr Wilhelmine ungerührt fort, schlenderte an den Bücherregalen entlang und betrachtete die Titel mit wohligem Schauer. »Aber ich muss unbedingt mit dir sprechen!« Sie trat rasch zu Victoria. »Was liest du denn gerade?« Sie nahm ihr das Buch aus der Hand, ohne zu fragen, und lächelte anzüglich. »Ibsen.
Die Frau am Meer.
Ist das nicht dieser schwedische Skandalschriftsteller? Ich darf so etwas nicht
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