Hausers Zimmer - Roman
Eingangstür ragte ein ungefähr ein Meter langes, rot-weißes, an eine Straßenabsperrung erinnerndes schmales Brett in Kopfhöhe aus der Wan d – diese Skulptur wurde gelegentlich von ahnungslosen Gästen als Garderobe benutzt, was Wiebke und Klaus stets in helle Aufregung versetzte.
Nicht viel leichter zu erkennen war die Kunst in den Hauptzimmern, was nicht nur daran lag, dass ein Teil davon, vor allem Zeichnungen, tagsüber oft mit Laken abgedeckt wurd e – um sie vor Sonnenlicht zu schützen. So mancher Besucher ahnte gar nicht, was an Überraschendem hier oder da unter den stockfleckigen Laken seinem Blick verborgen geblieben war.
Neben dem Berliner Zimmer gab es noch mehrere andere große Räum e – in einem der Wohnzimmer hing eine Lampe, die eigentlich eine Skulptur wa r – oder umgekehrt. Die Skulptur sah wie ein Karton mit mehr Ecken als üblich aus, und in den Karton waren Löcher geschnitten. Aus den Löchern hingen dünne Fäden, an denen wiederum Fotos baumelten. Aber auf den verwackelten Fotos sah man nichts außer verschiedenen Augenpaaren. Ich fand die Lampenskulptur oder Skulpturlampe ausnehmend hässlich, aber Klaus meinte, sie sei grandios, ein Meisterwerk. Die Arbeit hieß Löche r – Gegenwelt .
Einmal sagte ich so leichthin zu Klaus, dass Löche r – Gegenwelt mich ein wenig an eines der Arrangements von Herrn Olk in unserem Hinterhof erinnere. Tief getroffen blickte Klaus mich an, so dass ich meine Aussage hastig zurücknahm.
Dann gab es noch eine Art Pappmachéskulptur, die Falk und ich Boat People getauft hatten. Das hatten wir in den Nachrichten aufgeschnappt. Falk und ich hatten so konsequent von Boat People gesprochen, dass Wiebke und Klaus den Titel übernahmen. »Wiebke, vielleicht sollten wir die Boat People doch woandershin verfrachten, hier gehen sie ein bisschen unter«, hörte ich Klaus tatsächlich sagen, als er sich mit Wiebke spätabends nach einer Vernissage durch unseren kunstgespickten ersten Flur bugsierte.
Falk und ich waren der Meinung, dass wir mehr Mitspracherecht haben sollten, was die Möblierung der Wohnung anbetraf, schließlich hatten wir früher im Kinderladen fast alles selbst gestalten dürfe n – was Klaus und Wiebke uns als großen Vorzug dieses Kinderladens gegenüber herkömmlichen Kindergärten angepriesen hatte n –, doch unser Vorstoß versetzte sie in Angst und Schrecken. Falk musste angesichts ihrer Unglücksmienen lachen und meinte: »Schon gut, meinetwegen stolpere ich weiterhin dreimal am Tag über die Boat People, bis das Ding eines Tages wie eine zermanschte Bifi aussieht, Himmel, beruhigt euch.« Und so blieben nur unsere Kinderzimmer ordentlich aufgeräumte kunstfreie Zonen.
In der Nähe unserer Wohnung gab es ein Theater. Jedes Jahr fand dort ein »Tag der offenen Tür« statt, bei dem man ausrangierte Theaterklamotten ergattern konnte. Das war für mich früher einer der größten Tage überhaupt. Falk und ich kamen jedes Mal als Ritter, Prinzen, Drachen oder Sultane verkleidet zurück, und Wiebke und Klaus machten begeistert Fotos von uns. Manchmal packte sie dann der Spieltrieb, und wir vier rasten in den von uns angeschleppten Klamotten durch die Wohnung, und an diesem einen besonderen Tag durften Falk und ich uns auch in den eigentlich den Erwachsenen vorbehaltenen Wohnzimmern aufhalten. Wir krabbelten dann unter die orangefarbenen Schalensitze vor dem Fernseher und unter den klobigen Glastisch oder steckten die Köpfe aus einer Plastikskulptur, die wie die Kreuzung einer Aubergine mit einem Krokodil aussah. Weil wir heute selbst »Kunstwerke« waren, so die Logik unserer Eltern, war das ausnahmsweise erlaubt.
Als Falk und ich jünger waren, hatten Klaus und Wiebke voller Hingabe einen Teil der Wohnung in eine Art Möbel-und-Kunst-Landschaft verwandelt, denn sie wollten uns Kindern Kunst nahebringen, indem sie bekrabbel- und begehbare Kunstwerke kreierten und manchmal auch solche, die ursprünglich nicht zur Begehung gedacht waren, eigenhändig ummodelten. Sie entwickelten dabei viel Phantasie: Durch ganze Zimmer konnte man sich nur noch kletternd bewegen. Unsere Verwandten hielten uns spätestens ab diesem Zeitpunkt für verrückt.
Aus unserer Kindersicht waren The Wiebkes and the Klauses zumindest ziemlich merkwürdig: Als Falk und ich klein waren, durften wir in unseren Zimmern die Wände bekrakeln. Das taten wir auch ausgiebig. Wir malten und kritzelten und klebten aus Zeitschriften ausgerissene Bilder an die Wand.
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