Hausers Zimmer - Roman
Wiebke und Klaus fotografierten unsere »originellen Einfälle« sogar. Aber wir mussten jeden Tag unsere Betten machen. Auch wenn wir »Scheiße« an die Wand daneben schreiben durften.
Irgendwann gingen uns dann unsere Krakeleien auf den Wecker. Hundertmal stand bei mir in verschiedenen Farben und Größen: »Falk ist doof«; bei Falk prangten endlose Reihen von sich an den Händen haltenden Skeletten mit irren Augen. Nachdem wir stundenlang auf Leitern gestanden und unsere Zimmer neu gestrichen hatten (in Weiß), verspürten wir nie wieder den Wunsch, die Wände zu bemalen.
Wiebke und Klaus waren tief enttäuscht darüber. Und nicht nur über unseren Entschluss, die eigenen »Werke« unter eintönigem Weiß verschwinden zu lassen: Als wir vier einmal bei einer Kollegin von Wiebke zum Kaffeetrinken eingeladen waren, äußerten Falk und ich uns spontan begeistert über ihre »gemütliche, kleine« Neubauwohnung. Obwohl Falk ein Hüne ist, gefielen ihm sogar die niedrigen Decken sehr. Wiebke und Klaus waren sprachlos. Doch Falk und ich hätten damals gut auf unsere langen Flure, die man endlos staubsaugen musste, und auf die ewig hohen Decken mit den vielen Spinnweben verzichten können. Da oben sammelten sich doch nur abgestandene Gedanke n – dachten wir. Den Luxus von Platz und Raum hatten wir noch nicht begriffen, Platz war da wie Luft, wie Müll, wie Kunst.
Ich trat ans Hoffenster und hob den Vorhang ein wenig: Die Pechs saßen vor ihrem Monstrum von Fernseher und sahen sich an, wie ein Haufen aufgedrehter alter Leute die Polonäse Blankenese tanzt e – Gottlieb Wendehals’ Riesenhit. Als Tanz konnte man dieses Geschiebe und Getrippel allerdings kaum bezeichnen. Auch beim Hauser lief die Polonäse , aber er schien nicht da zu sein. Hatte wohl Besseres zu tun, als sich anzugucken, wie Rentner im Chor in einem Pseudodialekt etwas über die Annäherung zwischen dem Erwin und der Heidi sangen.
Ich drehte mich um und legte mich auf meine Matratze. Ich war, wie so oft, sehr müde, denn ich schlief nachts kaum. Flackernd erhellte jetzt der Pechsche Riesenfernseher mein Zimmer, die Musik wurde lauter, die Polonäse schien auf einen Höhepunkt zuzusteuern: Erwin zieht los mit ganz großen Schritten und fasst der Heidi von hinten an di e – Schulter. Der Refrain über die wegfliegenden Löcher im Käse mit dem Reim auf Polonäse wiederholte sich, und die Pechs stellten ihren Fernseher noch lauter.
In der Küche nahm ich mir eine Dose aus dem Müll und spielte einmal durch die Wohnung kicken. Damit war ich eine halbe Stunde beschäftigt. Ich schoss mich durchs Berliner Zimmer, durch drei Flure und an zahlreichen Hindernissen, will sagen Kunstwerken, vorbei bis zur Haustür. Ich hatte drei Joker. Dreimal durfte meine Dose aus einem Kunstwerk befreit werden. Wenn sie beim vierten Mal festhing, hatte ich verloren. Gegen mich selbst. Diesmal schaffte ich den Hindernislauf in achtundzwanzig Minuten. Persönliche Bestzeit.
Danach wollte ich sehen, ob Isa zu Hause war.
Isa und ich kannten uns, seit wir fünf Jahre alt waren. Unsere Eltern zogen zeitgleich in den damals noch halb leerstehenden Altbau. An diesem Tag standen wir uns im Treppenhaus zwischen all den Umzugshelfern gegenüber, beide mit einem Stofftier im Arm, das jeweils ungefähr so groß war wie wir selbst. Hinter uns brüllten unsere Eltern, schleppten Möbel, Bücherkartons und mit Geschirrtüchern und Laken bedeckte Kunstwerke nach oben. Unsere Kinderzimmer waren irgendwo in den Kisten verschwunden. Nichts war mehr so, wie es war. Während wir uns ansahen, fingen wir an zu weinen. Dann sagte Isa: »Ich bin Isabel«, und ich sagte: »Ich bin Julika.« Das war der Beginn einer äußerst soliden Freundschaft, die Vieles aushielt.
Ich stapfte ins Treppenhaus. Wie immer war das Licht kaputt; im Dunkeln tastete ich mich ein Stockwerk tiefer. Auf jedem Treppenabsatz roch es auf spezifische Weise nach den jeweiligen Bewohnern. Jede dieser Riesenwohnungen hatte ihren eigenen Geruch, der nicht allein auf die jeweiligen Kochgewohnheiten zurückzuführen war. Diese Wohnungen hatte n – oder entwickelte n – ein Eigenleben. Ich hätte immer gewusst, bei wem ich vor der Tür stand.
»Isabel ist nicht da! Sie ist noch bei Wuschel!«
Isas Mutter, die keinesfalls Hildegard, sondern Mutti genannt werden wollte, stand mit ihrer merkwürdigen Lesebrille vor mir, die mich an ein tropisches Insekt denken ließ, vielleicht an die Große Patagonische Steppenfliege, falls
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