Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hausers Zimmer - Roman

Hausers Zimmer - Roman

Titel: Hausers Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
Vom Netzwerk:
als bräche der Bürgersteig auseinander. Auf der Lietze, wie wir die Lietzenburger Straße nannten, gingen die festtäglichen Lichterketten nahtlos in die glitzernden Lämpchenreihen von Bordellen und Peepshows über. Bei Wuppkes neben Lorettas Garten hing eine Uhr mit einem großen glitzernden Weihnachtsmann; der Zeiger war vorn auf seiner Hose angebracht. Sehr witzig.
    Überall in den Wohnzimmern lief die dritte Folge von Das Traumschiff , reiste man auf dem Sofa mit nach Barbados. Alle wollten heimlich nach Süden. Alle wollten sie weg. Nein, alle wollten in Berlin bleiben und sich dann aus der Mitte der Stadt hinauskatapultieren, aus einem Tunnel, dem Rattenloch, dem Bahnhof Zoo, der Ruine der Gedächtniskirche, der Nationalgalerie, der Akademie der Künste, dem Grunewaldsee, dem Wannsee, dem Schloss Charlottenburg, dem Flughafen Tempelho f – aus irgendeinem der magischen Orte dieser Stadt, in der die Luft auf eine vibrierende Art stillstand (eine besondere Art der Stille, eine erregte Stille, war das), in etwas ganz Anderes katapultieren. Nur nicht Restdeutschland. Nur nicht Deutschland. Berlin–New York. Berlin–Honolulu. Berlin–Utopia. Glitzerberlin. Weit for t – und immer wieder zurück.
    Überall roch es nach modrigem Laub, nach Zersetzung und nach Steinkohle. Überall klebte gefrorene Taubenscheiße. Neben uns auf einem Schneeberg stieg dampfend der Geruch von Urin auf. Ein verspäteter Silvesterknaller krachte in der stillen, kalten Luft. Dann fiel Goldregen auf die verwitterte Brandmauer vor mir. Die Straße war leer, nur die beiden türkischen Mädchen aus unserem Hinterhaus hockten in ihren weiten karierten Röcken, die sie in mehreren Schichten trugen, auf einem Mäuerchen, tuschelten und kicherten. Manchmal rieben sie ihre roten Hände aneinander und pusteten sie warm. Dann erklang der melodische Singsang: » Serife, Filiz! Hadi artık, yemek sog ˆ uyacak! « Ich kannte jedes einzelne dieser Worte, ohne mehr als die Vornamen der Nachbarskinder zu verstehen: Vermutlich wurden sie zum Abendessen gerufen.
    Meine Zehen waren mittlerweile so kalt, dass ich sie beim Gehen kaum noch spürte. Die Obdachlosen, mit denen Wiebke und Klaus in freundschaftlichem Verhältnis standen, dösten in ihrem beheizten Verschlag (deshalb konnte man sie eigentlich nicht als Obdachlose bezeichnen) vor sich hin; ich winkte einmal. Karl trug einen ausrangierten Pullover von Klaus. Ein bisschen irritiert war ich immer, wenn ich Karl in italienischer Markenkleidung sah. Der rostrote V-Ausschnittpullover meines Vaters stand ihm jedoch gut. Karl hatte einen langen rotbraunen Bart. Die kleine Hütte hatten Klaus, Falk und Herr Hülsenbeck widerrechtlich am Rande eines nahe gelegenen Parkplatzes errichtet, was aber nie jemand beanstandet hatte.
    Jetzt kam Fred mit der Koderitz um die Ecke gebogen; er kläffte mich freudig an, sprang an mir hoch und leckte mein Regencape ab. Die Koderitz täschelte seinen Kopf; sie grüßte mich nicht. Für die Temperaturen war sie sehr leicht bekleidet, ihr Haar hing ihr in nassen Strähnen ins aufgedunsene Gesicht.
    Ich lief weiter und kam an der Praxis meiner Zahnärztin vorbei, weshalb ich unwillkürlich bis in den Rinnstein auswich, dann an Neue Küchen , in dem letztes Jahr die orangefarbenen und die hellgrünen Einbauküchen verschwunden waren und chromfarbene Einzug gehalten hatten. Friederikes Pflanzenoase beachtete ich nicht mehr, denn da gab es keine Kakteen, nichts Exotische s – trotz des Namens. In einem Fenster hing ein riesiges Bild von einem Weihnachtsmann mit vierundzwanzig Adventstürchen. Die 24 war vorne an seiner Hose angebracht. Offenbar war das der Renner der Saison.
    An der nächsten Straßenecke stieg ich vom Bürgersteig auf ein moosbewachsenes Mäuerchen. Dort blickte ich durch das Astloch eines hohen, schiefen Holzzauns auf die verwilderte Wiese vor mir, die wir das Rattenloch nannten. Isa und ich hatten dort einmal Ratten so groß wie Dackel gesehen. Ein anderes Mal hatte ich, als ich über den Zaun auf zertrümmerte Möbel und herumliegenden Unrat starrte, den Hauser entdeckt: Er stand in zerrissenen Jeans und Cowboystiefeln auf einem der Müllberge und hielt etwas in der Hand, das wie ein Luftgewehr aussah. Ein bisschen sah er dabei aus wie der Marlboro-Mann. Eine Reklame, die Wiebke verabscheute.
    Ich schob die morschen Holzlatten so gut es ging auseinander, tastete mit einem Fuß den Boden a b – er gab nicht nach: Berliner Permafrost. Es war still. Ein

Weitere Kostenlose Bücher