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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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seine Gedanken erraten.
    »Das merkt man«, versuchte er zu scherzen.
    »Nein, wirklich«, sagte sie schwach. »Es ist nichts passiert. Ich hab Windpocken bekommen. Deshalb konnten sie mich nicht operieren.«
    »Er hat nicht …?«
    »Nein.«
    »Und du hast was? Windpocken?«
    »Kennst du das nicht? Das mit den Pusteln. Die so jucken.«
    »Windpocken!«, jubelte Jonah. »Natürlich! Man musste im richtigen Augenblick Windpocken bekommen. Das war es!« Am liebsten hätte er vor Freude getanzt. Aber dann erinnerte er sich an das Feuer über ihnen. »Das Arbeitszimmer brennt«, erklärte er. »Wir müssen hier raus.«
    Er schob sie die Kellertreppe hoch. Sie kamen nur langsam voran. Jede Stufe schien sie anzustrengen. Der Rauch war jetzt auch schon hier unten zu riechen. »Nicht aufmachen«, sagte er, als sie vor der Kellertür standen. Er legte seineHand an die Tür. Die Temperatur war normal. Ob es im Flur schon brannte? Qualm biss in seinen Augen. Jette zog ihn von der Tür weg. »Durch das Schlüsselloch kommt Rauch«, sagte sie.
    Sollten sie warten, bis die Feuerwehr kam? Es war 22.59 Uhr. Eigentlich müsste sie jeden Moment eintreffen, und Benno hatte der Leitstelle mit Sicherheit gesagt, wo sie waren. Die Feuerwehr würde sie hier rausholen. Aber hatten sie noch so lange Zeit?
    »Jo«, sagte Jette, »da oben kommt auch Rauch rein. Durch den Spalt über der Tür. Schwarzer Rauch. Er sammelt sich an der Decke.«
    »Mach mal kurz die Tür auf«, sagte Jonah. »Aber nur kurz. Und schau, ob wir noch durchkommen. Rechts ist das Arbeitszimmer. Dort brennt es. Wir müssen nach links. Da ist die Tür zur Eingangshalle.«
    Jette öffnete die Tür. Jonah merkte, wie er automatisch die Luft anhielt. Sie warf die Tür schnell wieder zu.
    »Ich glaube, es geht noch«, sagte sie zögernd und hustete. Jonah spürte den Rauch, der hereingekommen war. Er brannte in der Kehle. »An der Decke hängen schwarze Rauchschwaden. Es ist warm, aber nicht heiß. Feuer hab ich keins gesehen.«
    Jonah knotete die feuchten Lappen ab, die an seinen Beinen befestigt waren, und gab ihr einen. »Nichts wie raus hier!«, sagte er. »Halt den Lappen vors Gesicht. Und atme bloß nicht den schwarzen Rauch ein! Das ist Gift. Davon stirbt man. Du führst uns, okay? Lauf schnell! Nach links. Die Tür zur großen Halle ist wahrscheinlich zu. Die schließt immer von selbst. Du musst sie aufmachen. Dann haben wir es geschafft. Es sind nur ein paar Meter.«
    Jette öffnete die Tür und nahm seine Hand. Sofort begannen seine Augen zu brennen. Er drückte das feuchte Tuchfest auf sein Gesicht und versuchte, möglichst flach zu atmen. Der Rauch reizte trotzdem seinen Hals. Er musste husten. Inzwischen konnte man das Feuer im Arbeitszimmer hören. Es knackte und prasselte. Irgendetwas fiel zu Boden.
    »Schneller«, sagte Jonah hinter seinem Tuch. Jette wirkte unsicher. Sie ging langsam. Einmal wankte sie kurz. Nach den ersten Schritten rief sie auf einmal bestürzt: »Jonah, ich hab was vergessen! Warte kurz!« Und dann lief sie zurück.
    Das darf doch nicht wahr sein, dachte Jonah. Er riss sich das Tuch vom Gesicht und brüllte: »Jette!« Sofort musste er stark husten und drückte sich den Stoff wieder aufs Gesicht. Jette öffnete die Kellertür. Er hörte, wie sie die Treppe hinunterlief. Was wollte sie da unten bloß noch? »Jette!«, schrie er unter seinem Tuch. Und hustete.
    Er war allein. Wut stieg in ihm hoch. Was sollte das? Was war das für eine bescheuerte Aktion? Jette Lindner hatte eindeutig nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wo gab es denn so was? In Lebensgefahr noch irgendetwas erledigen! Und einen Blinden allein im Flur zurücklassen! Nicht mal sagen, was man vorhatte. Jonah Mint, befahl er sich, bleib ruhig. Aber es war zu spät. Er fing an zu heulen.
    Das Feuer wurde jetzt sekündlich lauter. Wieder fiel etwas mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Dann ein plötzlicher Knall. Jonah fuhr erschrocken zusammen. Scherben klirrten. Es knisterte und zischte. Dann eine kleine Verpuffung. Und es wurde warm. Das bildete er sich nicht ein. Es wurde sogar heiß. Das Feuer kam näher.
    Er musste allein weitergehen. Mit jedem weiteren Moment, der verging, konnte es zu spät sein. Der Rauch schnürte ihm bereits die Kehle zu. Das Haus wirkte fremd. Es war zu einem bedrohlichen Wesen mutiert. Wo waren die geschäftigen Schritte der Menschen, die hier normalerweise lebten?Das Klappern des Geschirrs? Das Lachen und Scherzen der Angestellten? Er durfte nicht

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