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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Wind hatte sich gelegt. Nur das Feuer knisterte leise. Kein Vogel schrie. Kein Hund bellte. Kein Ast knackte. Der Wald schien zu warten. Fast schien es, als hätten die Tiere für einen Moment ihre nächtliche Jagd unterbrochen.
    »Tja, war wohl nichts«, sagte Charlie und wandte sich wieder ab.
    Jette stellte vorsichtig die Flaschen auf den Boden. Dann machte sie einen Schritt in Richtung des Waldes. Und noch einen. Es waren andere Schritte als am Tag. Sie führten ins Unbekannte. Die Mädchen hinter ihr schwiegen. Da vorn begannen die Bäume. Ein kleiner Weg führte in den Wald hinein. Jette trat unter das Blätterdach. Schlagartig wurde es stockdunkel. An Rennen war nicht zu denken. Behutsam setzte sie einen Schritt vor den anderen. Die Dunkelheit umschloss sie. Rings um sie herum hingen Äste, sodass sie schützend die Arme vors Gesicht hielt. Ihr Fuß stieß an eine Wurzel, und sie wäre beinah gestolpert. Wieder schlug ihr ein Zweig ins Gesicht. Neben dem Weg raschelte es. Die Dunkelheit schien zu lauern.
    Jette blieb stehen. Die Stille des Waldes war jetzt gewaltig. Wer die nächtliche Ruhe störte, wurde sofort bestraft. So etwas ließ der Wald nicht zu. Kurz zögerte sie, doch dann gab sie sich einen Ruck, öffnete den Mund und schrie. Brüllte. Ihre Stimme explodierte, schien überall zu sein: In der Luft, auf den Blättern, den Stämmen, dem Boden. Mehr, immer mehr. Bloß nicht aufhören. Und irgendwann doch. Und dann natürlich die Stille nach der verbotenen Tat. Jette kauerte sich auf den Boden und legte ihre Arme schützend um ihren Kopf. Ob der Wald zurückschlagen würde?
    »Jette!« Das war Charlie. Sie hatte sich neben sie gekniet. »Es tut mir leid«, sagte Charlie.
    Jette blickte auf. Durch eine kleine Lücke im Blätterdach fiel Mondlicht auf den Boden. Charlies blonde Haare glänzten in dem schwachen Schein. Ihr Gesicht war bleich, die feinen Züge gut zu erkennen. Klara stand ein Stück hinter Charlie und sah erschrocken aus.
    »Es tut mir leid«, wiederholte Charlie.
    »Muss es nicht«, sagte Jette leise.
    »Du bist ja nicht schuld«, murmelte Charlie.
    Im ersten Augenblick wusste Jette nicht, was Charlie meinte. Aber dann wurde es ihr schnell klar: die Zwangsräumung. Charlies Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester wohnte, sollte in ein paar Tagen geräumt werden. Charlies Mutter hatte seit Monaten die Miete nicht bezahlt, und der Vermieter wollte nicht länger warten.
    »Du schaffst das schon«, sagte Jette müde.
    »Kommt«, sagte Klara, »gehen wir zurück zum Zelt.«
    Jette Lindner war direkt an ihm vorbeigelaufen. So nah, dass er sie hätte berühren können. Er hatte sich gerade noch hinter einem Baum verstecken können. Dann hatte sie plötzlich geschrien. Einfach so, ohne Vorankündigung. Was für eine Schnapsidee! Mitten in der Nacht im Wald. Wahrscheinlich war schon irgendein besorgter Camper unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht hatte auch jemand die Polizei benachrichtigt. Besser, er zog sich zurück. Als die beiden anderen Mädchen auch noch in den Wald gekommen waren, hatte er sich zum Zelt geschlichen und einen Schnitt in die Zeltplane gemacht. Ein Eingang für die Fledermaus, falls die Mädchen im Zelt schlafen würden.
    Zurück im Lager begrüßte ihn die Fledermaus mit einem Überschlag an ihrem Stab. Wie immer sauste sie dabei auf den Boden. Sie rappelte sich benommen auf. »Lass gut sein«, sagte Wim Tanner. Es war eine Geste der Unterwerfung, die die Fledermaus eines Tages eingeführt hatte. Seit über einem Jahr trainierte Wim Tanner sie. Jeden Tag. Es war ein hartes Stück Arbeit, aber es lohnte sich. Wim Tanner war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Die Fledermaus führte anstandslos seine Befehle aus. Sie flog, wohin er wollte, biss die von ihm ausgewählten Opfer und lieferte ihm ihreBlutmahlzeit sogar ab. Sie spie das Blut an der Stelle aus, wo er es haben wollte. Sie war intelligent und fügsam. Kein Vergleich zu den dusseligen Brieftauben, die er früher gezüchtet hatte.
    Er hatte die Vampirfledermäuse im Internet gekauft. Es war eine ganze Kolonie gewesen. Sie gehörten zur Gattung Desmodus rotundus. »Sein Mädchen«, wie er die Fledermaus in dem Käfig nannte, war von Anfang an sein Liebling gewesen. Sie konnte pfeilschnell jede Art von Wänden hochkraxeln, auf dem Boden hüpfen und war von stattlicher Figur. Sie hatte einen besonders hellen Bauch, kräftige Füße und war knapp zehn Zentimeter groß. Wenn sie ihre

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