Havelsymphonie (German Edition)
einfinden würde, um gegen hohe Benzinpreise zu protestieren.
Zwar glaubte Sonja, ihren Chef zu verstehen, aber den Blick, den er Bremer nun zuwarf, konnte sie nicht einordnen. Aber die beiden hatten sich still verständigt und hoben in unerwarteter Eintracht den Oberkörper der Toten, bis Bremer unter das flauschige Kopfkissen gucken konnte.
„Und?“, fragte Manzetti hastig.
„Nichts … nur ein gelbes Blatt“, stellte Bremer enttäuscht fest.
Daraufhin sah Sonja etwas grimmig aus, denn sie hatte den sicher geglaubten Faden längst wieder verloren. „Kann mir mal jemand verraten, was ihr hier treibt? Blätter fallen nun mal im Herbst herunter, oder irre ich mich da?“ Ihre Hände stemmte sie dabei provokativ in die Hüften.
„Bei Puccini“, erklärte Manzetti, „hatte diese Mimi ein rosa Häubchen, das sie hin und wieder unter dem Kopfkissen versteckte. Aber hier lag eben nur dieses Blatt. Es hätte so schön sein können …“
Er trat wieder etwas dichter an den Tisch, beugte sich über den Kopf der Leiche und wandte sich dann zu Sonja: „Wissen wir schon, wer sie ist?“
„War“, korrigierte Bremer.
„War“, wiederholte Manzetti mit eindeutiger Mimik.
„Nein“, musste Sonja einräumen. „Sie hatte keine Papiere dabei, und bislang hat sie niemand erkannt. Es haben aber auch noch nicht viele Leute einen Blick gewagt.“
Manzetti schaute nach rechts, dorthin, wo zwei uniformierte Kollegen die Absperrung verteidigten.
„Wenn du das Flatterband abnimmst, kommen die zu Dutzenden und wagen mehr als einen Blick. Guck dir nur die Handys an. Die halten sie doch nicht in die Luft, weil so die Gespräche besser zu verstehen sind.“
„Deswegen müssen sie die Tote aber noch lange nicht kennen“, gab Sonja zu bedenken.
„Gekannt haben“, kam es wieder von Bremer.
Sonja begnügte sich nicht mit einem strafenden Blick, wie Manzetti. Sie holte weit aus und trat Bremer vors Schienbein.
„Ich habe sie schon irgendwo gesehen“, behauptete Manzetti in das Gejaule von Bremer hinein, während er sich wieder über die Leiche beugte und intensiv das Gesicht betrachtete. Es war ein wirklich schönes, mit ganz ebenmäßigen Zügen. Der Teint war nordisch und die Nase teilte das Gesicht gleichmäßig in zwei Hälften. Das war wohl das Geheimnis von Schönheit. Die Symmetrie. Wenn die Proportionen harmonisch waren, so wie hier, dann sah auch ein totes Gesicht noch reizend aus, so, als würde es friedlich schlafen. „Ich kann mich nicht erinnern, aber ich bin mir absolut sicher, dass ich sie erst vor kurzem gesehen habe und das nicht nur flüchtig. Ein so schönes Gesicht vergisst man nicht so schnell.“
Als Bremer die zweite Pirouette vollendet hatte, trat er vorsichtig mit dem schmerzenden Bein auf und sah wutschnaubend zu Sonja. Aber sein Blick glitt schnell weiter, über ihre Schulter hinweg. Und dann fragte er: „Was will die denn hier?“
„Wer?“
„Na, die da.“ Bremer zeigte ungeniert mit dem ausgestreckten Finger auf die Frau, die noch immer mit dem Polizeiparka innerhalb der Absperrung stand.
„Das ist Frau Manter“, sagte Sonja.
„Das weiß ich. Aber was will die hier?“ Bremer wurde immer lauter.
„Sie hat die Tote gefunden“, erklärte Manzetti, packte den Arzt an der Schulter und drehte ihn wieder zur Leiche.
3
Nach mehr als zwei Stunden intensiver Tatortarbeit sah Manzetti auf seine Uhr. Spätestens um sieben wollte er nämlich wieder zu Hause sein. Allerspätestens.
Also übergab er Sonja das Zepter und verließ zu Fuß den Platz vor dem Theater. Sein eher bedächtiger Marsch führte ihn nicht auf dem kürzesten Weg durch den Theaterpark, sondern durch die Wollenweberstraße. Das brachte ihm nicht nur genug Zeit und Muße, um die ersten Eindrücke und die sich aufdrängenden Fragen zu sortieren, sondern es schonte auch seine teuren Schuhe, die nicht im Matsch der aufgeweichten Wege versinken mussten.
Was wusste er bislang? Eigentlich nicht viel. Ihm war lediglich bekannt, dass eine junge Frau aus dem Leben geschieden war, und das höchstwahrscheinlich nicht freiwillig. Aber mehr? Fehlanzeige. Auch das merkwürdige Pärchen, das die Tote gefunden hatte, hatte keine ergiebigen Fakten beisteuern können. Die waren nur Entdecker der Grausamkeit und außerdem sehr schnell in irgendeinen Streit eingetaucht, bei dem es, jedenfalls soviel Manzetti davon verstanden hatte, um eine Schnepfe oder eine Sekretärin oder um beides gegangen war.
Ihm war das egal gewesen und
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