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Havelsymphonie (German Edition)

Havelsymphonie (German Edition)

Titel: Havelsymphonie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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deshalb war er hinter Bremer um den Leichnam geschlichen, hatte sich weiter mit dem Ort des Geschehens vertraut gemacht, mal diese mal jene Stelle inspiziert, ja, hatte entgegen sonstiger Gewohnheiten sogar die Leiche berührt. Aber wirkliche Erkenntnisse hatte er dabei nicht gewonnen. Und damit meinte er in erster Linie, dass er sich noch immer nicht daran erinnern konnte, wo er die Tote bereits gesehen hatte.
    So versuchte er sich auf sein Zuhause zu konzentrieren und damit etwas Abstand zu gewinnen. Aber das gelang ihm heute irgendwie nicht. Ging das überhaupt? Konnte man wirklich von einer Leiche weggehen und gleichzeitig all die massiven Eindrücke zurücklassen? Wohl eher nicht. Manzetti jedenfalls war nicht in der Lage, die Erinnerung an einen toten Körper nach fünf Minuten abzustreifen und abzulegen wie einen Mantel, den man in der warmen Wohnung nicht mehr brauchte und ihn deshalb im Flur aufhängte. So eine Leiche saß fest an einem, wie angeschweißt. Nicht einmal die abendliche Dusche hatte dafür genügend reinigende Kraft.
    Als Manzetti in Gedanken versunken kurz aufsah, erschrak er plötzlich. Er blickte in zwei wache Augen, die ihn aus einem schönen Gesicht mit einem leicht spöttischen Ausdruck ansahen. „Guten Morgen“, sagte die alte Frau, die vor einer offenen Haustür stand und die Zeitung aus dem Briefkasten angelte.
    Manzetti überlegte kurz, dass er diese Frau wohl nicht kannte, erwiderte aber ihren Gruß. Und während er den Duft von frischem Kaffee wahrnahm, der auf einer warmen Wolke an ihr vorbei nach draußen bis zu seiner Nase strömte, führte sie das Gespräch fort, sodass er sich endgültig entschloss, stehen zu bleiben.
    „Kommen Sie vom Theater?“, fragte sie.
    „Warum?“
    „Weil da ein riesiger Menschenauflauf ist und weil sonst zu dieser Zeit kaum Fußgänger hier herumspazieren.“
    „Da mögen Sie Recht haben. Aber warum interessiert Sie das?“, stellte Manzetti seine für Polizisten typische und damit auch verräterische Frage.
    „Nun tun sie doch nicht so geheimnisvoll“, entgegnete die Frau, steigerte ihr ohnehin schon gewinnendes Lächeln noch um ein paar Prozentpunkte und machte dabei nicht den Eindruck, als hätte sie mit den interessanten Dingen des Lebens schon abgeschlossen.
    Als sie weitersprach, hielt sie ihm die Märkische Allgemeine an die Brust. „Das steht doch morgen sowieso alles in der Zeitung, oder?“
    Manzetti musste nur kurz überlegen. „Auch da haben Sie wahrscheinlich Recht. Also, ja, ich komme direkt vom Theater.“
    „Da ist jemand tot, nicht wahr?“
    „Woraus schließen Sie das?“
    „Ich habe einen Menschenauflauf gesehen und Polizeifahrzeuge, aus meinem Dachfenster heraus. Aber da ist ein Baum davor und ich müsste das Fenster hochklappen und mich weit hinauslehnen, um alles zu überblicken.“
    „Das ist aber gefährlich. Das sollten Sie lieber lassen“, ermahnte Manzetti und dachte sofort an die Folgen eines Oberschenkelhalsbruchs.
    „Ach wo“, wehrte sie ab. „In meinem Alter ist gar nichts mehr gefährlich, junger Mann. Da ist der Drops gelutscht, wie mein Enkel zu sagen pflegt. Da freut man sich über jeden neuen Tag, ist verzweifelt auf der Suche nach frischen Abenteuern, um dann abends doch wieder festzustellen, dass ein altes Leben nur aus Déjà-vu-Erlebnissen besteht. Was ist denn nun? Liegt da ein Toter?“
    „Ja, da liegt ein Toter. Genauer, eine tote Frau.“
    „Abgemurkst?“, bohrte sie weiter.
    Als Manzetti zögerte, zupfte sie an seinem linken Mantelärmel. „Also abgemurkst … Dachte ich mir’s doch. Sonst wäre auch nicht die gesamte Polizei dieser Stadt dort und die Neugierigen wären längst verschwunden.“
    „Das ist wohl so“, antwortete Manzetti und erinnerte sich an die gut zwei Dutzend Gaffer, von denen sicherlich einige ausharren würden, bis das letzte Polizeiauto verschwunden war. „Haben Sie vielleicht etwas gesehen, was mit dem Mord zu tun haben könnte?“
    Sie überlegte einen kurzen Moment. „Nein, habe ich nicht“, sagte sie schließlich und zog ihren Morgenrock enger um den Körper. „Ich kann Ihnen leider nicht helfen.“
    Manzetti betrachtete den Morgenmantel im schwachen Laternenlicht. Er war von der Art, wie ihn auch seine Frau trug, also nicht ein dick gesteppter mit bunten Blümchen, wie man ihn bei älteren Frauen erwartet hätte, sondern ein knapp geschnittener aus Satin, schwarz, mit einem bunten Paradiesvogel bestickt. „Sie werden sich erkälten, gnädige

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