Havelsymphonie (German Edition)
großartig gewesen, und auch bei der Auswahl der Stücke hatte der Generalmusikdirektor ein goldenes Händchen bewiesen. Carl Maria von Weber, Hindemith und Bernstein hatten jene Mischung ausgemacht, die dem verwöhnten Geschmack des Publikums voll entsprach, und der Höhepunkt, ein Stepptänzer zu klassischer Musik, hatte dank der unzähligen Bravorufe drei Zugaben geben müssen.
Manzettis Augen wanderten weiter, vorbei an der Theaterklause, hin zu den Häusern der Grabenstraße, die nicht mehr zum Theaterkomplex gehörten und wo die polizeiliche Absperrung begann. Er griff in die Innentasche seines Mantels, in der gewöhnlich der handtellergroße Schreibblock steckte und schrieb zwei Wörter auf: Intendant, Gastwirt.
Als er wieder aufblickte, sah er zu Sonja, die wild gestikulierte und wohl hoffte, ihn dadurch mahnen zu können, dass die Kollegen nun lange genug auf ihren Einsatz warteten. Endlich gab Manzetti nach und ließ mit einer Handbewegung alle mit der Arbeit beginnen.
„Kollege Köppen!“, rief er dem jungen Mann entgegen, der frierend von einem Bein auf das andere sprang.
„Was soll ich machen, Herr Manzetti?“, fragte Köppen mit klappernden Zähnen.
„Versuchen Sie bitte, den Intendanten des Theaters und den Eigentümer dieses Lokals aufzutreiben“, wies Manzetti ihn an und zeigte mit gestrecktem Arm auf die Klause. „Ich brauche beide hier, auch wenn es wohl noch nicht ihre Zeit ist. Aber vorher fahren Sie zur Wohnung von Bremer und bringen ihn sofort hierher. Wenn nötig, treten Sie seine Tür ein.“
„Das hat die Kollegin Brinkmann bereits veranlasst“, sagte Köppen ohne Zögern.
„Was? Dass Bremers Tür eingetreten wird?“, fragte Manzetti mehr rhetorisch und deshalb mit breitem Grinsen.
„Nein. Aber der Doktor wird gerade mit einem Streifenwagen gebracht.“
Als Köppen in der Menge verschwunden war, bog wie zur Bestätigung auch schon das Polizeifahrzeug aus der Havelstraße ein und hielt direkt vor dem rot-weißen Absperrband. Dr. Bremer kletterte vom Beifahrersitz und zog den Kragen seines Mantels mit einer Hand zusammen.
„Morgen, Dottore“, grüßte Manzetti, als der Gerichtsmediziner auf seiner Höhe war. „Mal wieder vor lauter Träumen das Telefon nicht gehört?“
„Hm“, knurrte der Arzt und war im Begriff, schnell an Manzetti vorbeizugehen. Der lächelte erneut, als ihre Blicke sich kurz trafen.
„Leiden Sie neuerdings unter Bulimie?“, fragte der Hauptkommissar dann mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Bulimie? Wieso?“, brabbelte Bremer, ohne dabei stehen zu bleiben.
„Weil Sie aussehen, als hätten Sie Ihr Frühstück unter großen Anstrengungen gerade wieder erbrochen.“
„Ich lach mich tot, Manzetti“, schnaufte der Gerichtsmediziner. „Ich habe noch nicht gefrühstückt, und wenn Sie mich weiter vollquatschen, dann komme ich heute auch nicht mehr dazu.“
„Sind Sie in diesem Zustand überhaupt in der Lage, vernünftig zu arbeiten?“ Manzetti fragte das, weil ihm Bremers Fahne, die zu dem Mann gehörte wie der Stern zu Mercedes, hier draußen in der frischen Luft geradezu ekelerregend in die Nase strömte.
„Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Ich habe drei Stunden geschlafen, das reicht.“
Manzetti zuckte mit den Schultern und folgte dem Mediziner schweigend bis vor die Klause, wo er sich so hinstellte, dass der Wind den Fuselgeruch von ihm wegtrug. Er kannte Bremer nun schon viele Jahre, ebenso viele, wie der an der Flasche hing. Weil er ihn trotzdem mochte, litt Manzetti bei jedem Aufeinandertreffen der beiden an seinem eigenen Mitleid, das er einfach nicht ablegen konnte und mit betonter Ruppigkeit zu überspielen versuchte. Er schätzte Bremers messerscharfen Verstand, seinen Humor und auch den Einsatzwillen, drei Punkte, die in jüngster Vergangenheit jedoch immer häufiger von wahren Saufexzessen verdrängt worden waren.
„Bremer, was sehen Sie?“
Der Arzt hob nicht einmal den Kopf, als er antwortete: „Weiblich, etwa dreißig Jahre alt und weniger als acht Stunden tot. Mehr Zeit hatte ich ja noch nicht, oder?“
Manzetti trat einen Schritt zur Seite und setzte sich schwerfällig auf einen der Plastikstühle. Dabei wunderte er sich, dass man den Gästen noch im November das Angebot machte, draußen sitzen zu können. Dann blickte er wieder zur Toten.
Er sah sich die Frau etwas genauer an. Sie war sehr hübsch. Ihre langen blonden Haare waren streng nach hinten gekämmt und dort zu einem Zopf gebunden. So boten sie dem
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