Hawkings neues Universum
existieren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch.) Und jüngst hat ihn auch Stephen Hawking mit seinem „Top-down“-Ansatz in der Kosmologie gewagt. Darin wird aus den gegenwärtigen Beobachtungen gleichsam über eine Vielzahl möglicher Entwicklungsverläufe des Universums integriert, denn alle möglichen Geschichten des Universums, die mit den Messungen jetzt vereinbar sind, wären für die Quantenkosmologie relevant (dazu mehr am Ende dieses Buchs). Das wirft allerdings neue irritierende philosophische und physikalische Fragen auf, darunter die nach dem Verhältnis von Zeit und Zufall.
Zeit und Zufall
„Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, ist ein zwar unvollständiges, aber kein falsches Bild des Universums ... unendliche Zeitreihen, ... ein wachsendes, schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und paralleler Zeiten. Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren, umfasst alle Möglichkeiten“, schrieb der argentinische Dichter Jorge Luis Borges 1941 in einer seiner berühmten Kurzgeschichten. Der magische Realismus, den er literarisch mitbegründet hat, wird auch von Physikern gerne für die seltsame Welt herangezogen, die sie mit ihren Gleichungen beschreiben.
Wenn es wirklich absolute, nicht nur in unserer eingeschränkten Kenntnis begründete Zufälle gibt – etwa beim radioaktiven Zerfall von Atomkernen –, dann legt dies für viele Physiker und Philosophen eine Art Borges’sche Zeitverzweigung der Möglichkeitsreihen nahe. Und das scheint im Gegensatz zum zeitlosen Block-Universum zu stehen, in dem alles determiniert ist – das also keinen Platz für absolute Zufälle hat.
Doch solche Quantenereignisse sind nicht notwendig ein K.o.-Kriterium für den Eternalismus, auch wenn sie einige physikalische Klimmzüge erfordern – Kröten, die viele Wissenschaftler nicht zu schlucken bereit sind:
Zum einen könnte man sich eine „Überlagerung“ oder „Aufspaltung“ aller möglichen Block-Universen vorstellen – in Anlehnung an die „Vielwelten“-Interpretation der Quantenphysik. Wie in Borges Garten der Pfade, die sich verzweigen würden also in dieser Superposition von Blöcken alle Möglichkeiten ausgeschöpft und wirklich sein. Stephen Hawkings kosmologische Modelle können sich so interpretieren lassen, auch wenn er selbst diese Frage lieber offen lässt.
Zum anderen wurde über gleichsam gestückelte, desintegrierte Weltlinien spekuliert – im Block-Universum verteilte Punktmengen, die ein Quantenteilchen darstellen, das der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation zufolge nur einen unscharfen, statistischen Gesetzen gehorchenden und insofern zufälligen Aufenthaltsort hat. Einen solchen vierdimensionalen Atomismus hat der Physiker Anastas Anastassov von der Universität Sofia seit den 1980er-Jahren entwickelt. Demzufolge bestünde beispielsweise ein Elektron aus rund 10 20 über ein Ein-Sekunden-Intervall verstreuten „Quantonen“.
Schließlich ist auch denkbar, dass auf mikroskopischer Ebene andere Gesetze herrschen, die gleichsam unterhalb der Perspektive der Auflösungsgrenze des Block-Universums regieren. Der „Eisenblock“ würde dann etwas wabern und fluktuieren, könnte man ihn von außen ganz genau inspizieren, aber diese Kleinigkeiten würden am Gesamtbild nichts ändern.
Das sind freilich alles im Augenblick nur Mutmaßungen und Spekulationen. Die Frage, ob es einen absoluten Zufall gibt oder nicht, ist nicht entschieden. Doch dem erbarmungslosen Fortschreiten der Zeit, so scheint es, kann niemand entrinnen.
Teil VI
Gerichtete Zeit
Je weniger man über das Universum weiß,
desto leichter ist es zu erklären.
Léon Brunschvicg (1869–1944),
französischer Philosoph
Im Strom der Zeit
„Die Zeit fließt mitten in der Nacht“, schrieb der britische Dichter Alfred Lord Tennyson. Doch dieser stetige, scheinbar auch ohne sein Wahrgenommenwerden existierende Fluss der Zeit ist vielleicht nur eine Illusion – jedenfalls aber ein Problem. Denn die fundamentalen Naturgesetze sind zeitsymmetrisch. Sie enthalten oder bevorzugen also keine Richtung von der Vergangenheit in die Zukunft. Unsere Alltagserfahrung lehrt jedoch das Gegenteil. Denn in den komplexen Systemen der Natur und Zivilisation lassen sich nur eindeutig gerichtete Prozesse beobachten: Blüten werden zu Äpfeln, die später verfaulen; Milch tropft in den schwarzen Kaffee und macht ihn braun; ein
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