Hawkings neues Universum
und halb erschrocken.
Für manche Forscher sind solche Fragen freilich ein Indiz dafür, dass mit dem Eternalismus fundamental etwas nicht stimmen kann. „Das Block-Universum gibt einen zutiefst unangemessenen Blick auf die Zeit“, kritisiert beispielsweise John Lucas von der University of Oxford. „Es versagt bei der Beschreibung des Vergehens der Zeit, der Bedeutung der Gegenwart, der Zeitrichtung und des Unterschieds zwischen Zukunft und Vergangenheit.“
Ein wachsender Block?
„Die Vorstellung vom Block-Universum nimmt die Physik und Biologie der realen Welt nicht ernst, sondern zeigt eine idealisierte Sicht der Dinge“, kritisiert Hawkings früherer Mitarbeiter George F. R. Ellis. Er steht dem Eternalismus skeptisch gegenüber. Für ihn ist die Zeit weder illusorisch noch bloß subjektiv, sondern objektiv – eine Eigenschaft belebter wie unbelebter komplexer Systeme, in denen es Zufälle gibt und deren Entwicklung weder genau vorausgesagt noch im Detail im Nachhinein beschrieben werden kann.
Ellis hält das Block-Universum für eine abstrakte Beschreibung, die lediglich auf bestimmten – sehr großen – Skalen vernünftig und angemessen ist, weil hier entsprechende Vereinfachungen und Mittelungen möglich und erfolgreich sind. Ellis sympathisiert mit der Theorie des „wachsenden Block-Universums“, die schon 1923 der englische Philosoph Charlie Dunbar Broad formuliert hat: Hiernach ist die Vergangenheit fixiert, aber die Zukunft offen und unbestimmt. Sie entwickelt sich jedoch nicht in raumzeitlichen Schichten, die sich gleichsam nach und nach auf den Block des Universums stapeln, sondern überall mit separaten Hier-und-Jetzt-Punkten. „Werden findet wirklich statt, und die Physik sollte das besser akzeptieren. Wenn Relativierung der Preis ist, dann sei es so“, sagt Ellis – und gibt damit zu, dass seine Sicht genau in die schon von Kurt Gödel kritisierten Probleme mündet, die der Eternalismus ja gerade zu überwinden versprach.
Zufall und Zukunft: Die These von der sich entwickelnden Raumzeit ist eine Alternative zum statischen Raumzeit-Blockuniversum. Im „wachsenden Blockuniversum“ ist nur die Vergangenheit determiniert, die Zukunft dagegen ein Spielraum der Möglichkeiten, von denen jedoch zu jedem Zeitpunkt nur eine realisiert wird. Die Grafik veranschaulicht dies mit der Zufallsbahn eines Teilchens, sie zeigt die Weltlinie des Geschehens zu zwei Zeitpunkten. Es ist aber umstritten, ob eine solche „offene Zukunft“ und ein absoluter Zufall existieren, die nicht bloß im subjektiven Nichtwissen bestehen.
Dieser Nachteil geht aber mit einem Vorteil einher, der die Hauptschwierigkeit des Eternalismus umgeht – neben dessen Widerspruch zur phänomenologischen Intuition der Alltagserfahrung: Im wachsenden Block-Universum ist Platz für einen absoluten Zufall, der nicht nur auf dem subjektiven Unwissen beruht – dem relativen Zufall –, sondern an sich im Universum herrscht und nicht von grundlegenderen Vorgängen verursacht wird. Als ein solcher absoluter Zufall gelten Quantenprozesse, etwa der Zerfall eines radioaktiven Atoms. Diese Sichtweise dominiert zurzeit in der Physik, auch wenn sie keineswegs erwiesen ist. Deterministen wie Einstein – mit seinem Diktum „Gott würfelt nicht“ – nehmen zwar an, dass der Spuk eines Tages vorübergehen wird, dass man also Prozesse finden könnte, die als „verborgene Variablen“ den Zufall bestimmen. Doch dies ist keineswegs ausgemacht. Und Stephen Hawkings Forschungen zur Quantenphysik Schwarzer Löcher deuten sogar auf die Existenz eines noch weitergehenden Zufalls hin. Hawking: „Die Teilchenemission aus Schwarzen Löchern scheint den Schluss nahe zu legen, dass Gott nicht nur manchmal würfelt, sondern die Würfel auch gelegentlich an einen Ort wirft, wo man sie nicht sehen kann.“
Das Superpositionsprinzip der Quantenphysik wirft die interessante Frage auf, ob man sich das „wachsende Block-Universum“ nicht auch auf den Kopf vorgestellt denken könnte – statt Shakespeares „seeds of time“ also „feeds of time“: eine Art Flussdelta von verschiedenen Rinnsalen der Vergangenheit, die alle in den Punkt der Gegenwart münden. Dann wäre nicht (nur) die Zukunft offen, sondern auch die Vergangenheit.
Dieser für Historiker geradezu blasphemische Gedanke stellt sich im Rahmen der Viele-Historien-Interpretation der Quantenphysik von Hartle und Gell-Mann allerdings ganz ernsthaft. (Denn alle physikalisch erlaubten Geschichten
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