Hawkings neues Universum
Raumdimensionen. Zukunft und Vergangenheit sind ebenfalls wirklich. Und Objekte existieren nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in Vergangenheit und Zukunft – Aristoteles und die Marsstation sind gleichsam in der Raumzeit des Block-Universums fixiert: als sogenannte Weltlinie.
Die Objekte sind räumlich wie zeitlich – genauer „raumzeitlich“ – ausgedehnt. Das erscheint schwer vorstellbar, ist aber analog zu einem Fahrrad, das in einer Türöffnung abgestellt wurde. Auch dieses Fahrrad besteht ja aus zusammenhängenden räumlichen Teilen, die sich außerhalb und innerhalb der Türe befinden: das Hinterrad beispielsweise noch draußen, das Vorderrad schon im Hausflur. Zudem besteht das Fahrrad aus zeitlichen „Teilen“, etwa einem Stadium mit einer Reifenpanne und der in einer „Richtung“ der Weltlinie zunehmenden Zahl an Rostflecken. Dies sollte freilich nicht als eine Abfolge von Stadien interpretiert werden. Die Alltagssprache tut sich sehr schwer mit dieser Weltdeutung. Aber das ist der Punkt: „Veränderung, Vergehen, zeitliches Werden haben ihre gewöhnliche Bedeutung nur in der dreidimensionalen Welt“, sagt Petkov.
Albert Einstein, der Minkowskis Raumzeit zunächst als „überflüssige Gelehrsamkeit“ bezeichnet hatte, musste wenig später die Bedeutung der Erkenntnis seines ehemaligen Lehrers einsehen. 1916 gestand er ein: „Ohne Minkowskis wichtige Gedanken wäre die Allgemeine Relativitätstheorie vielleicht in den Windeln stecken geblieben.“ Später hatte sich Einstein den – damals noch nicht so bezeichneten – Eternalismus ebenfalls zu eigen gemacht. 1952 betonte er im 5. Anhang zur 15. Auflage seines Buchs Relativity: The Special and General Theory , dass es natürlicher erscheint, die physikalische Realität als eine vierdimensionale Existenz zu denken statt wie bisher als Entwicklung einer dreidimensionalen Existenz. Und 1955 schrieb er, kurz bevor er starb, in einem Kondolenzbrief anlässlich des Todes eines Freundes: „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.“
Das emporkriechende Bewusstsein
Wenn die Zeit also gar nicht existiert, sondern bloß eine Illusion ist, dann gibt es in Wirklichkeit gar keinen Ablauf von Ereignissen. Das ist nur unsere subjektive irrige Empfindung – obwohl man das schwer glauben kann, wenn man doch häufig viel zu wenig Zeit hat oder ängstlich auf seinen Alterungsprozess starrt.
Der Mathematiker Hermann Weyl hat dies in seinem Buch Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft schon 1927 folgendermaßen beschrieben: „Der Schauplatz der Wirklichkeit ist nicht ein stehender dreidimensionaler Raum, in dem die Dinge in zeitlicher Entwicklung begriffen sind, sondern die vierdimensionale Welt, in welcher Raum und Zeit unlöslich miteinander verwachsen sind. Diese objektive Welt geschieht nicht, sondern sie ist – schlechthin; ein vierdimensionales Kontinuum, aber weder Raum noch Zeit. Nur vor dem Blick des in den Weltlinien der Leiber emporkriechenden Bewusstseins ‚lebt‘ ein Ausschnitt dieser Welt ‚auf‘ und zieht an ihm vorüber als räumliches, in zeitlicher Wandlung begriffenes Bild.“
Wenn es nicht so paradox klänge, könnte man sagen, dass Weyl mit dieser Beschreibung seiner Zeit weit voraus war. Aber seine Worte machen auch deutlich, welches Problem der Eternalismus aufwirft: Wie kommt es in einem ewig-statischen Block-Universum zur Zeitempfindung?
Weyl definierte unser Bewusstsein implizit als etwas, das sich entlang der Weltlinien des Körpers bewegt – der „Zeitfluss“ wäre also abhängig vom Bewusstsein. Das ist entweder eine widersprüchliche Behauptung oder bedeutet, dass das Bewusstsein vielleicht überhaupt keine physikalische Wirklichkeit besitzt. Tatsächlich haben Philosophen wie René Descartes immer wieder behauptet, dass es in der Zeit, aber nicht im Raum ist. Ein solcher Leib-Seele oder Geist-Gehirn-Dualismus ist freilich für viele Philosophen nicht akzeptabel – und folgt aus dem Eternalismus auch nicht. Doch die unbehagliche Frage bleibt, weshalb wir eine „Gegenwart“ und einen „Zeitfluss“ erleben – und nicht alles auf einmal –, und warum sich unser Bewusstsein nicht simultan auf die Weltlinie unseres raumzeitlichen Körpers erstreckt. „Können wir sicher sein, dass einige der Leute, die wir treffen, nicht bloß bewusstlose Körper sind?“, fragt deshalb Petkov halb im Scherz
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