Hawkings neues Universum
werden, dass sie eine Zeitasymmetrie enthält. „Dann würde sich die Vergangenheit von der Zukunft aus errechnen lassen, aber nicht umgekehrt. Diese Möglichkeit würde Historiker in eine bessere Position bringen als Physiker“, überlegt Hawkings früherer Mitarbeiter Don Page. Andere Forscher wie der russisch-belgische Nobelpreisträger Ilya Prigogine lokalisieren Zeitpfeile in den Eigenzeiten komplexer Systeme fern vom thermodynamischen Gleichgewicht, für die sie spezielle Gesetzmäßigkeiten postulieren.
Randbedingungen: Die meisten Physiker – so auch H. Dieter Zeh von der Universität Heidelberg und Lawrence Schulman von der Clarkson University – nehmen an, dass die Irreversibilität der Natur nicht auf zeitasymmetrischen Gesetzen beruht, sondern eine Folge spezifischer, sehr unwahrscheinlicher Anfangs- oder Randbedingungen ist. Wenn dafür nicht ein außerordentlicher Zufall verantwortlich ist, wird das Problem somit auf die Entstehung des Universums und folglich auf eine Quantenkosmologie verschoben.
Illusion: Wenn die Zeit nicht objektiv ist – eine Eigenschaft der Welt oder zumindest ihrer Gegenstände oder deren Beziehung –, sondern subjektiv, dann suchen Physiker an der falschen Stelle nach einer Erklärung. Immanuel Kant hielt die Zeit für eine Anschauungs- oder Denkform des menschlichen Geistes und damit für eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt. Andere Philosophen sprechen von einem Konstrukt unseres Bewusstseins oder der Grammatik unserer Sprache. Vielleicht existieren die Zeitpfeile also gar nicht in der Welt an sich. Wenn die ganze Geschichte des Universums als Einheit existiert, ist die Zeit in gewisser Weise eine Täuschung.
Eine Zahl größer als unser Universum
„Durch die Zeit verhindert die Natur, dass alles auf einmal geschieht“, lautet ein Spruch, den der 2008 gestorbene Physiker John Wheeler auf der Toilette eines Cafés in Austin, Texas, gelesen und immer wieder gern zitiert hat. Diese Toiletten-Weisheit gibt freilich keine Antwort darauf, wie die Natur beziehungsweise Zeit das schafft – und warum überhaupt.
Die meisten Physiker suchen in der Thermodynamik eine Antwort auf diese Frage, und verschieben diese somit letztlich auf die Anfangsbedingungen des Universums. Dazu gehört auch Stephen Hawking. „Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik ergibt sich aus dem Umstand, dass stets mehr ungeordnete Zustände als geordnete existieren“, rekapituliert er und verdeutlicht dies mit dem Beispiel von Puzzle-Teilen in einer Schachtel: „Es gibt eine und nur eine Anordnung, in der sich die Teile zu einem Bild zusammenfügen. Dagegen existiert eine sehr große Zahl von Kombinationen, in denen Teile ungeordnet sind und kein Bild ergeben.“ Ähnlich die Moleküle der Milch im Kaffee: Sie könnten sich wieder zu einem Tropfen zusammenballen. Sie tun dies zwar nicht, weil es sehr, sehr viel unwahrscheinlicher ist. Doch dass es sehr, sehr viel unwahrscheinlicher ist, liegt nicht an den Naturgesetzen, sondern an den Rand- beziehungsweise Anfangsbedingungen. Und genau diese markieren das Welträtsel. Der Physiker Robert Wald von der University of Chicago brachte dies lakonisch so auf den Punkt: „Warum existiert der thermodynamische Zeitpfeil? Weil die gegenwärtige Entropie so gering ist! Und warum ist sie so gering? Weil sie früher noch geringer war!“
Wachsende Unordnung: Die Entropie – das physikalische Maß für die Unordnung eines Systems – kann statistisch im Lauf der Zeit nur zunehmen und definiert deshalb gewissermaßen sogar die Richtung der Zeit („Zeitpfeil“). Wird in einem leeren Raum beispielsweise eine Gasflasche geöffnet, verteilen sich die Gas-Moleküle alsbald gleichförmig über das gesamte Volumen – das thermodynamische Gleichgewicht als Zustand maximaler Entropie ist dann erreicht (oben). Bei großen Räumen wie im frühen Universum führt hingegen die Schwerkraft zu lokalen Verklumpungen eines zunächst fast homogenen Gases (unten) – so sind die Sterne und Galaxien entstanden. Mit dieser Gravitationswirkung geht, was lange nicht bekannt war, ebenfalls eine Zunahme der Entropie einher. Umstritten ist jedoch, ob sich im – außerdem ständig expandierenden – Weltraum überhaupt ein thermodynamisches Gleichgewicht einstellen kann, ein „Wärmetod“, und ob die Entropie sich sinnvoll definieren lässt.
Gegen diese Erklärung lässt sich nichts einwenden. Aber sie ist so elegant wie unzureichend. Denn sie verschiebt das Problem
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