Hawkings neues Universum
Anfang haben muss, selbst wenn wir auf Grund der Inflation danach nie etwas darüber erfahren könnten. Nach Vorarbeiten mit Alvin Borde seit 1994 hat Vilenkin zusammen mit Borde und Alan Guth im Jahr 2003 ein wichtiges Theorem veröffentlicht. Dieses beweist auf der Grundlage von nur sehr schwachen und generellen Annahmen, dass in einem zukunftsewig inflationierenden Multiversum alle Weltlinien (mit allenfalls einer Ausnahme) einen Anfangspunkt haben müssen, egal wie lange dieser zurückliegt. „Das bedeutet unserer Meinung nach, dass die Inflation nicht die ganze Geschichte sein kann. Es muss etwas vorher stattgefunden haben. Eine Art von Anfang“, sagt Vilenkin. „Das Universum kann nicht unendlich alt sein. Die Inflation löst nicht das Problem der Anfangssingularität und somit die Frage nach dem Ursprung des Universums“, ist er überzeugt. „Die Inflation reicht für eine vollständige Beschreibung des Universums nicht aus, es ist eine neue Physik für den Anfang nötig“, schreiben Vilenkin, Guth und Borde in ihrem Artikel. Sie betonen, dass ihre Beweisführung auch für viele andere kosmologische Modelle ohne Inflation gilt (etwa die String-Kosmologie mit ihren höherdimensionalen Räumen).
Andrei Linde ist mit dieser Schlussfolgerung nicht einverstanden. Er argumentiert dafür, dass der Kosmos vergangenheitsewig sein kann, weil zwar alle einzelnen Weltlinien irgendwo und irgendwann begannen, aber nicht das ganze Bündel von ihnen. „Es ist einfach unklar, ob es einen einzigen Moment gab, vor dem der Kosmos nicht existierte. Ich sage nicht, dass sich die Inflation ewig in die Vergangenheit erstreckt. Ich weiß es nicht. Aber wer behauptet, es sei nicht so, ist einen Beweis schuldig. Ich sehe einen solchen Beweis nicht.“ Linde gibt sich daher agnostisch: „Nichtwissen ist besser als Falschwissen“, sagt er.
Noch ist die Vergangenheitsbewältigung nicht abgeschlossen. Tatsächlich ist der Beweis von Vilenkin, Borde und Guth nicht völlig hieb- und stichfest beziehungsweise allgemeingültig. Denn es gibt Modelle, die das Theorem umgehen können. Doch sie widersprechen entweder den astronomischen Beobachtungen oder erfordern außerordentlich exotische Annahmen. So haben Anthony Aguirre, der heute an der University of California in Santa Cruz forscht, und Steven Gratton vom Institute for Astronomy in Cambridge gezeigt, dass sich das Theorem „aushebeln“ lässt, wenn man Prozesse akzeptiert, die einst zu einer Inflation mit umgekehrter Zeitrichtung führten. Für die meisten Kosmologen ist dieses Modell freilich nur eine mathematische Kuriosität und zeigt, wie stark Vilenkins Anfangstheorem tatsächlich ist. Es gilt schon, wenn der Kosmos nur im Durchschnitt expandiert. Dies muss also nicht einmal die ganze Zeit über der Fall sein. Selbst eine sehr lange oszillierende Reihe von Ausdehnung und Kontraktion wie in den Modellen zyklischer Universen müsste einen Beginn haben.
Obwohl das Theorem von Vilenkin, Guth und Borde unabhängig von den inzwischen legendären Singularitätstheoremen von Hawking und Penrose ist, führt es auch zum Rätsel des Weltanfangs zurück. Das ist, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, insofern kurios, als Vilenkin wie auch Hawking vor dem Vilenkin-Guth-Borde-Theorem bereits daran arbeiteten, dieses Rätsel zu knacken und die Singularitätstheoreme zu umgehen. Das begann Anfang der 1980er-Jahre.
Jenseits von Relativitätstheorie und Quantenphysik
„Die Vorhersage von Singularitäten bedeutet, dass die klassische Allgemeine Relativitätstheorie keine vollständige Theorie ist. Da man die singulären Punkte aus der RaumzeitMannigfaltigkeit heraustrennen muss, kann man dort die Feldgleichungen nicht mehr definieren und nicht vorhersagen, was aus einer Singularität kommt“, betont Stephen Hawking immer wieder. „Bei der Singularität in der Vergangenheit scheint der einzige Weg, mit diesem Problem fertig zu werden, darin zu bestehen, die Quantengravitation zu bemühen.“
„Quantengravitation“ ist ein Sammelbegriff für verschiedene Ansätze, die beiden Säulen der modernen Physik miteinander zu verbinden: die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie. Obwohl beide Theorien exzellent mit den experimentellen Daten übereinstimmen – nie zuvor in der Geschichte gab es leistungsfähigere Theorien –, widersprechen sie sich. Es scheint, als würde die Natur gleichsam zwei verschiedene Arten von Regeln befolgen:
Einerseits die Allgemeine
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