Hawkings neues Universum
Relativitätstheorie: Ihr Alphabet ist die Geometrie, und ihr Vokabular besteht aus Linien, Winkeln, Oberflächen und Kurven. Die Schwerkraft ist eine Eigenschaft der Geometrie der Raumzeit, die nicht bloß Bühne allen Geschehens, sondern auch teilnehmender Schauspieler ist.
Andererseits die Quantentheorie: Ihr Alphabet besteht aus algebraischen Symbolen und Quantenzahlen und enthält nicht die deterministischen Wörter „immer“ und „nie“, sondern die statistischen „üblicherweise“ und „selten“. Hier ist die Raumzeit die unveränderliche, starre Bühne („Hintergrund-Metrik“) für die Partikel und Kräfte. Gravitation wird auf – hypothetische, noch nicht nachgewiesene – Teilchen namens Gravitonen zurückgeführt. Sie werden im subatomaren Pingpong zwischen allen anderen Partikeln ausgetauscht und bringen so die Schwerkraft hervor. Doch da die Gravitonen auch mit sich selbst wechselwirken, geraten die anderswo so erfolgreichen quantenphysikalischen Techniken in massive Schwierigkeiten aufgrund von unsinnigen Unendlichkeiten, Wahrscheinlichkeiten über 100 Prozent und anderem Ungemach.
Die beiden Theorien sind also auf eine prinzipielle Weise nicht miteinander vereinbar. Und das markiert eine extreme Krisensituation der Theoretischen Physik, die nur deshalb leicht ignoriert oder umgangen werden kann, weil für die allermeisten Beschreibungen nur entweder die eine oder die andere Theorie nötig ist. Wenn es aber um den Urknall oder um Schwarze Löcher geht, sind beide Theorien gleichermaßen nötig und ihre Unvereinbarkeit lässt sich im Gegensatz zu den Situationen der Alltagsphysik nicht länger unter den Teppich kehren. Doch eine Theorie der Quantengravitation könnte aus der Not eine Tugend machen und die Relativitätstheorie von ihren pathologischen Singularitäten kurieren.
Attacke auf die Singularitäten
Die Singularitätstheoreme von Hawking und Penrose waren ein großer Erfolg, ein theoretischer Durchbruch. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Medaille eine unschöne Kehrseite hatte. Denn die Erkenntnis war ein Pyrrhussieg, versperrte sie doch den Weg zu einer Erklärung des Urknalls: Wenn in der Singularität keine Naturgesetze mehr gelten, dann entgleitet sie gleichsam dem Zuständigkeitsbereich der Physik oder ist eine Bankrotterklärung für jedes weitere Bemühen, den Ursprung des Universums zu verstehen. Schon nach der Vollendung der Theoreme, Anfang der 1970er-Jahre, betrachteten viele Kosmologen diese Situation allerdings nicht als Grund zur Kapitulation, sondern als Ansporn.
„Damals wurde allgemein angenommen, dass die Hawking-Penrose-Theoreme implizieren, dass eine Epoche der Quantengravitation im frühen Universum unumgänglich ist. Ob Quantengravitationseffekte die Singularität vermeiden können, war ungewiss – und ist es bis heute, auch wenn es inzwischen einige Hinweise dafür gibt“, sagt George F. R. Ellis. Er forscht seit langem an der Universität von Kapstadt in Südafrika und ist einer der renommiertesten Experten auf dem Gebiet der Relativitätstheorie und Kosmologie. Mit Hawking hat er schon 1968 eine Arbeit über die Singularitäten publiziert und 1973 dann das Fachbuch The Large Scale Structure of Space-time veröffentlicht, erschienen bei Cambridge University Press. Es war Hawkings erstes Buch und ist bis heute ein Klassiker, weil darin nicht nur die Singularitätstheoreme zusammenhängend dargestellt sind, sondern auch in den großen kosmologischen Kontext eingebunden werden.
Viele Kosmologen sind also davon überzeugt, dass Quanteneffekte eine physikalische Singularität nicht zulassen. Die Anfangssingularität ist dann lediglich die Selbstaussage der Allgemeinen Relativitätstheorie über das Ende ihres eigenen Anwendungsbereichs. Die Theorie prognostiziert somit ihren eigenen Zusammenbruch und trägt gleichsam den Keim ihrer Vernichtung in sich. Dies ist aber keine Katastrophe für die Forschung, sondern ein Vorteil sowohl in wissenschaftlicher als auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Denn dadurch wird die Grenze der Gültigkeit dieser Theorie offenkundig – und alle Theorien haben ja einen eingeschränkten Anwendungsbereich, nur machen sie selbst das in der Regel nicht deutlich. Diese Grenze versuchen verschiedene Modelle der Quantengravitation zu überwinden. Es gibt ein paar vielversprechende Ansätze, aber sie sind alle noch spekulativ und unbestätigt. Ob sie sich in der Praxis überhaupt testen lassen, ist
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