Hawks, John Twelve - Dark River
Außenverzierungen. Wie alle anderen Häuser im Tal war auch dieses aus Stroh – in den Wänden steckten ganze Ballen davon, von Stahlstangen zusammengehalten und mit wasserdichtem Putz abgedeckt. Ein einziger, großer Raum mit Küche und Wohnzimmer nahm das Erdgeschoss ein, und über eine offene Treppe gelangte man nach oben ins Schlafloft. Von dort gingen Türen in Alices Zimmer, ins Büro und ins Bad ab. Weil die Wände so dick waren, sahen alle Fensternischen wie kleine Alkoven aus. In dem in der Küche stand eine Schale mit unreifen Avocados, daneben lagen ein paar alten Knochen, die sie draußen in der Wüste gefunden hatten.
Der Topf auf dem Elektroherd blubberte vor sich hin, und die Fenster waren beschlagen. An kalten Abenden wie diesem hatte Alice das Gefühl, in einer Raumkapsel zu leben, die auf den Grund einer tropischen Lagune gesunken war. Wischte sie die Feuchtigkeit vom Fensterglas, könnte sie draußen bestimmt einen Lotsenfisch vor weißen Korallen vorbeischwimmen sehen.
Wie immer hatte ihre Mutter die Küche in einem chaotischen Zustand hinterlassen – schmutzige Schüsseln und Löffel, Basilikumstängel und eine offene Mehldose, die nur auf die Mäuse zu warten schien. Während Alice sich an die Arbeit machte, die Lebensmittel wegräumte und Krümel aufwischte, schwang ihr schwarzer Zopf hin und her. Sie spülte die Rührschüsseln und Löffel ab und legte sie auf ein sauberes Geschirrtuch wie Skalpelle auf einen OP-Tisch. Als sie gerade das Mehl zurückstellte, kam ihre Mutter mit einem Stapel medizinischer Fachzeitschriften unter dem Arm vom Schlafloft herunter.
Dr. Joan Chen war eine zierliche Frau mit kurzem, schwarzem Haar. Sie war Ärztin und mit ihrer Tochter nach New Harmony gekommen, nachdem ihr Mann bei einem Autounfall sein Leben verloren hatte. Jeden Abend vor dem Essen zog Joan sich um und tauschte ihre Jeans und das Flanellhemd gegen einen langen Rock und eine Seidenbluse.
»Danke, mein Schatz. Du hättest nicht aufräumen müssen. Das hätte ich später erledigt …« Joan ließ sich auf den geschnitzten Stuhl neben dem Kamin fallen und packte sich die Zeitschriften auf den Schoß.
»Wer kommt zum Essen?«, fragte Alice. In New Harmony gehörte es dazu, abends gemeinsam mit anderen zu essen.
»Martin und Antonio. Das Finanzkomitee muss irgendwas entscheiden.«
»Hast du Brot aus der Bäckerei mitgebracht?«
»Ja, natürlich«, sagte Joan. Dann wedelte sie mit der rechten Hand, so als versuche sie, sich an etwas zu erinnern. »Das heißt, vielleicht. Ich glaube schon.«
Alice durchsuchte die Küche und fand einen Brotlaib, der ganz offensichtlich älter als drei Tage war. Sie schaltete den Ofen ein, schnitt das Brot der Länge nach durch, berieb es mit frischem Knoblauch und tropfte anschließend Olivenöl darüber. Während das Brot auf dem Backblech röstete, deckte sie den Tisch und holte die große Pastaschüssel aus dem Schrank. Als endlich alles fertig war, wollte sie, zum Zeichen des Protestes gegen die ganze Arbeit, schweigend an ihrer Mutter vorbeimarschieren. Aber Joan streckte einen Arm aus und griff nach ihrer Hand.
»Mein Liebes, ich danke dir. Ich habe großes Glück, so eine wundervolle Tochter zu haben.«
Rund um New Harmony hatten die Späher ihre Posten bezogen; der Rest der Söldnertruppe verließ gerade das Hotel in San Lucas. Boone schickte eine E-Mail an Nash, den amtierenden Vorsitzenden der Bruderschaft. Minuten später bekam er eine Antwort: Die im Vorfeld besprochene Maßnahme ist hiermit bestätigt.
Boone rief den Fahrer des Geländewagens an, in dem das erste Team saß. »Begeben Sie sich zum Punkt Delta. Alle Mitarbeiter sollten jetzt ihre PTS-Tabletten einnehmen.«
Jeder Söldner hatte einen kleinen Plastikbeutel mit zwei Tabletten gegen prätraumatischen Stress bekommen. Boones Leute nannten die Tabletten scherzhaft »Pitbull-Pillen«; sie vor einem Einsatz zu nehmen hieß, »seine Pits einzuwerfen«. Das Medikament immunisierte einen Menschen in Gewaltsituationen vorübergehend gegen jegliches Mitleid oder Schuldgefühle.
Die PTS-Medikamente waren ursprünglich an der Harvard Universität entwickelt worden; Neurologen hatten entdeckt, dass Unfallopfer nach der Einnahme eines Herzmedikamentes namens Propranolol weniger schwere körperliche Traumata davontrugen. Wissenschaftler der Evergreen Foundation, der Forschungseinrichtung der Bruderschaft, erkannten die Bedeutung dieser Entdeckung schnell. Sie beschafften sich einen
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