Heaven (German Edition)
Stattdessen aber streckte er die Hand aus und setzte sie den Elementen aus. Binnen Sekunden hatte der Regen ihre Form zerstört und der Wind sie an sich gerissen. In einem spiralförmigen Strudel flog sie nach unten. Xavier folgte ihr mit den Augen und trat noch einen Schritt weiter vor.
Als ich Xavier plötzlich nur noch verschwommen wahrnehmen konnte, stockte mir der Atem. Dann aber erkannte ich, dass es bloß an den Wolken lag, die sich vor den Mond geschoben hatten. Als sie weitergezogen waren, hatte er seine Position verändert. Jetzt stand er am äußersten Rand der Klippen. Mit den Füßen trat er kleine Steine los, die den Abhang hinunterstürzten.
Panik ergriff mich. Er wollte doch wohl nicht springen? Um ihn herum peitschte der Sturm und drückte gegen seine Brust. Schon die winzigste Bewegung konnte fatal sein.
«Bitte nicht», flüsterte ich. «Warte auf mich.» Ich sah Josef flehentlich an. «Tu es! Jetzt!»
«Bevor du gehst, musst du noch eins erledigen.» Er sprach hastig, sich der Dringlichkeit bewusst. «Du musst einen heiligen Eid schwören, und zwar solange du noch himmlische Gestalt hast: Wenn du überlebst und als Mensch erwachst, wirst du dann alles tun, was in deiner Macht steht, um die Menschheit zu bessern und Gott zu ehren?»
«Natürlich», schrie ich. «Ich schwöre!» Ich brauchte keine Sekunde darüber nachzudenken. «Ich schwöre es bei Xaviers Leben. Und jetzt fang an!»
Zunächst spürte ich nichts als sanfte, prickelnde Hitze, als ob meine Flügel einen Sonnenbrand bekommen hätten. Dann war plötzlich das Amphitheater in blendendes Licht getaucht. Es strahlte von der schimmernden Glasoberfläche ab und tanzte einen verrückten Tanz.
Josef hatte recht gehabt. Ich spürte keinen Schmerz, war eins mit dem Licht. Es nahm mich auf, schien jede Zelle zu durchdringen und mit neuem Leben zu fluten. Mein Kopf war nicht in der Lage zu begreifen, was mit mir geschah. Dann erklang ein Knacken, das sich so schrecklich anhörte, dass ich es mir am liebsten noch einmal anders überlegt hätte. Es war ein tiefes schauderndes Stöhnen, so tief wie der Schrei eines Wals. Für eine Sekunde öffnete ich die Augen und sah Josef mit einer heißen roten Klinge in der Hand. Nur einen einzigen Gedanken konnte ich noch fassen, bevor all das, was mich ausmachte, auseinanderfiel. Mit aller Kraft schrie ich es laut heraus, in der Hoffnung, dass es Zeit und Raum überwand.
«Xavier, ich komme!»
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32
Verwandlung
Das Amphitheater füllte sich mit flüsternden Kindern, die mich aus starren Gesichtern ansahen. Instinktiv wusste ich, wer sie waren: Es waren die Seelen sämtlicher Kinder, denen ich in meiner Zeit als Übergangsengel den Eintritt in den Himmel erleichtert hatte. Sie waren gekommen, um sich von mir zu verabschieden, murmelten Worte der Ermutigung. Sei stark. Hab keine Angst. Folge deinem Herzen, und alles wird gut. Sie glaubten an mich.
Ich wollte ihnen danken, aber es war keine Zeit mehr, alles ging so schnell. Ich spürte eine glühende Hitze im Rücken und sah plötzlich das Amphitheater von außen. Ich konnte auch meinen Körper sehen, der schlaff nach vorne fiel. Josef und die Kinder verblassten wie ein altes Foto. Die Glassäulen um mich herum zersplitterten. Ich bestand nicht mehr aus fester Materie, sondern aus einer Million winzigster Teilchen, die durch das All flogen. Ich versuchte, den Atem anzuhalten, um das Ganze durchzustehen, aber es gab keinen Atem mehr, den ich hätte anhalten können. Jedoch auch keinen Schmerz, ganz so, wie Josef versprochen hatte.
Während meiner Reise nahm ich Einzelheiten der unglaublichen Schönheit des Himmels wahr: einen Wasserfall, der aus flüssigen Edelsteinen zu bestehen schien, einen stillen blauen See, auf dem Lilien in allen Farben schwammen, die man sich nur vorstellen konnte. Ich sah einen uralten Baum, der von Blumen bewachsen war, und Säle mit Thronen, die so prächtigen waren, dass ich mich fragte, warum ich all das hinter mir lassen wollte.
Doch all das schmolz wie Eis in der Sonne, als ich Xaviers Gesicht vor mir sah. Ich erinnerte mich an all das, was uns verbunden hatte und wie wir mit aller Kraft dafür gekämpft hatten, zusammenzubleiben. Ich musste unbedingt rechtzeitig bei ihm ankommen, um ihn vor dem größten Fehler seines Lebens zu bewahren. Ich schwor Gott, Ihm für immer zu dienen, wenn er auf Xavier Acht gab, bis ich bei ihm war. Und auch wenn ich nicht gerade ein Vorzeigeengel gewesen war,
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