Heaven (German Edition)
Mähne, und Zaumzeug und Sattel schimmerten wie Silber. Die Hufe machten kein Geräusch, als sie den Boden berührten. Der Reiter sprang ab und schritt zielstrebig auf uns zu. Josef war anders gekleidet als bei unserer ersten Begegnung. Mit seinem wehenden Umhang und den Sandalen hatte er etwas Majestätisches an sich. In seinem Gürtel steckte ein juwelenbesetztes Schwert, das ihn noch beeindruckender erscheinen ließ.
«Knie dich hin. Da, wo du stehst», wies er mich an. «Wir haben nicht viel Zeit.»
Ohne zu zögern folgte ich seinen Anweisungen. Ich kniete mich nieder und bedeckte mein Gesicht mit den Händen. Der Geruch von Regen und Tau auf feuchtem Gras umhüllte mich, der Geruch meiner Flügel. Im Herzen verabschiedete ich mich von ihnen und sprach laut aus, was mir am Herzen lag:
«Vater, vergib mir.»
Ich musste meinen Frieden mit Ihm machen. Ich liebte Ihn so sehr und gab doch das ewige Leben in Seinem Königreich auf. Ungehorsam war ich gewesen und hatte die Prüfungen, die Er mir auferlegt hatte, nicht bestanden. Oder doch? Das Einzige, was ich sicher wusste, war, dass mein Vater jeden Einzelnen von uns persönlich und ganz genau kannte, genau wie jeden Mann und jede Frau auf der Erde. Er wusste um unser Schicksal, noch bevor wir erschaffen waren. Vielleicht also hatte ich diesen steinigen Weg gehen und alle Hindernisse und Herausforderungen überwinden müssen, um hier an dieser Stelle zu stehen. Mein Vertrauen in Ihn war grenzenlos, und tief in meinem Herzen wusste ich, dass Er mir vergeben würde. In diesem Moment spürte ich statt Gottes Wut, die ich erwartet hatte, nichts als Gnade und Liebe.
«Du solltest lieber die Augen schließen», hörte ich die tiefe Stimme des Engels hinter mir. «Auch wenn du zunächst keinen Schmerz empfinden wirst. Im Himmel gibt es keinen Schmerz. Das kommt erst später.»
Ich seufzte erleichtert auf. Später würde Xavier bei mir sein und mir beistehen, so wie immer. Ich musste fest daran glauben, dass ich zu ihm zurückkehren würde. Doch ich betete, dass ich keine Last für ihn sein würde, zur Unkenntlichkeit verwandelt.
Als Josef mein langes Haar hob und zur Seite schob, dass es mir über eine Schulter fiel, begann ich zu zittern. Meine Flügel, die nach dem langen Flug noch pulsierten, waren jetzt entblößt. Josef legte mir ehrfürchtig die Hand auf den Kopf und senkte den seinen. Bei seiner Berührung hatte ich plötzlich, mitten zwischen den leeren Sitzen, die vom Mond beschienen waren, eine Vision. Ich sah Xavier. Er trug das Hemd, das ich so gut kannte, und abgewetzte Stiefel mit matschigen Sohlen. Sein Gesicht hatte sich verändert, auch wenn ich nicht festmachen konnte, wie. Er kam mir älter vor, mit einem Dreitagebart am Kinn und einem abwesenden Blick in den türkisfarbenen Augen. Seine Lebensfreude schien verschwunden, er wirkte müde, ausgelaugt und voller Trauer. Sein Gesicht war noch immer wunderschön, doch es war verlebter und weit entfernt von der jungenhaften Schönheit, an die ich mich erinnerte. Ich sah den Mann, der Xavier einmal sein würde … oder der er vielleicht auch bereits war. Wie viel Zeit war vergangen? Ein Jahr, vielleicht mehr? Im Himmel existierte Zeit nicht wie auf der Erde, daher konnte ich es nicht sagen. Auf jeden Fall trug Xavier noch seinen Ehering.
Sturm kam auf, ein Sturm, dem Xavier hilflos ausgeliefert war. Bald schon war er durchnässt vom Regen. Aus großer Höhe blickte er auf das tobende Meer hinunter. Wo war er? Waren das nicht … tatsächlich: Er stand auf unseren Felsen, genau an jener Stelle, von der ich gesprungen war, als ich ihm anvertraut hatte, wer ich war. Die Wellen schlugen kraftvoll gegen die Steine am Boden und schaukelten die kleinen Boote, die am Hafen vertäut waren, herum wie Marshmallows. Xavier schien wie paralysiert von dem steilen Abhang. Sein Gesichtsausdruck zeigte mir deutlich, dass es ihm egal war, was mit ihm geschah. Er beugte sich vor, während der Regen auf ihn prasselte wie ein Meer aus kleinen Pfeilen.
Er griff in seine Hemdtasche und zog mit geballter Faust etwas heraus. Ich wusste, was es war, noch bevor er die Hand öffnete. Eine weiße Feder mit rosafarbenen Sprenkeln lag in seiner Hand. Es war die Feder, die ich nach unserem ersten Date in seinem Auto vergessen hatte und die er seitdem wie eine Kostbarkeit aufbewahrte. Ich wünschte mir, er würde sie wieder in seine Tasche zurückstecken, wo sie in Sicherheit war, denn sie war alles, was ihm von mir geblieben war.
Weitere Kostenlose Bücher