Heavy Cross
Schlafcouch mit Jeri â ich war es ja gewohnt, kein eigenes Zimmer zu haben. Wir lebten dort zu sechst: ich, Kathy, Jeri, Nathan, Joey Casio (der Drummer von Little Miss Muffet) und ein Junge namens Erin. Neben Küche, Bad und Wohnzimmer gab es nur noch zwei weitere Räume, und jeder freie Fleck diente jemandem als Schlafplatz.
Wir waren alle noch nicht volljährig â Kathy war die Ãlteste, aber immer noch erst zwanzig â, deshalb fuhren wir in den groÃen Supermarkt in der Stadt und klauten dort Wein. Lebensmittel mitgehen zu lassen ist eine Sache. Aber das Risiko, erwischt zu werden, steigt erheblich, wenn man schwere, unförmige Flaschen zu klauen versucht. Die geschicktesten von uns gingen ohne Tasche in einen Supermarkt und kamen mit zwei Tüten, randvoll mit geklauten Sachen, wieder raus. Ich traute mich immer nur, ein paar Kleinigkeiten einzustecken â ein bisschen was zu essen, Eyeliner, Lipgloss. Aber ich kannte Leute, die stahlen drei oder vier Flaschen Wein auf einmal, sie schoben sie sich unter den Mantel oder lieÃen sie in ihrer Tasche verschwinden. Nathan dagegen war ein richtig mieser Ladendieb, der schon erwischt wurde, wenn er nur versuchte, einen Kaugummi mitgehen zu lassen.
Der ganze Punkhaushalt lebte von dem Essen, das Kathy und ich von der Arbeit im Fast-Food-Restaurant mitbrachten. Wie versprochen hatte Kathy mir einen Job besorgt, und so hielten wir uns eine Zeit lang über Wasser. Wir ernährten uns ausschlieÃlich von Corn Dogs und frittierten Chicken-Nuggets, die wir in neongelbe HonigsenfsoÃe tunkten. Alle aÃen die ekligen Fleischsnacks â auÃer Joey Casio, der Veganer war und stattdessen sämtliche grünen Bohnen für sich hortete. Bei uns ging es zu wie im Wohnheim eines Hinterwäldler-College.
Um in die Innenstadt zu kommen, wo die Shows stattfanden, mussten wir einen Hügel hinunter. Wir zogen Rollerskates an und schossen bergab, mitten ins Herz von Olympia. Natürlich fielen wir permanent auf den Arsch bei dem Versuch, den steilsten Abhang der Stadt runterzurollen, vor allem Jeri und ich. Wir betranken uns mit dem geklauten Wein und wollten zu irgendeinem Konzert, von dem wir gehört hatten. Damals gab es in Olympia einen Wein namens Night Train, den alle tranken. Im Vergleich zu Night Train schmeckt billiger Lambrusco im Tetrapak wie erlesener Champagner. Aber das Gesöff lieà sich halt besonders leicht klauen. Stellt euch Kaugummi mit Traubengeschmack in Batteriesäure getränkt vor, dazu noch Galle, dann habt ihr den Geschmack meines ersten Jahres in Olympia. Es war scheuÃlich, machte aber natürlich auch einen RiesenspaÃ.
In meiner Heimat gab es gar keinen Alkohol zu kaufen. Mein Landkreis White County war trocken. Man musste anderthalb Stunden mit dem Auto fahren, wenn man eine Flasche Wein oder Bier kaufen wollte. Hier in Olympia wurde Alkohol ganz zwanglos verkauft. Alle Jugendlichen hatten eine Colaflasche mit Whiskey, Wodka oder Rum dabei. Oder alles zusammen.
Doch der Kulturschock wurde noch gröÃer. In Olympia gab es Bagels! Hatten wir in Arkansas nicht. Man konnte überall in der Stadt vegetarisches Essen bestellen. Für mich war das total irre â eine Stadt, in der es so viele Vegetarier gab, dass die Restaurants besondere Gerichte für sie anboten! Olympia war wie ein College für mich. Dort erhielt ich meine Ausbildung. Bevor ich nach Olympia kam, hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie es für Bands war, auf Tour zu gehen und ständig pleite zu sein, weil das Leben unterwegs und der Sprit für den Bus teuer waren. Ich respektierte Nathan und fand ihn irre komisch, er konnte jedoch auch die allergröÃte Nervensäge sein. Er war wie der schlimmste groÃe und der schlimmste kleine Bruder gleichzeitig, fast schon zu cool und ein zwanghafter Lügner. Er akzeptierte mich in der Gruppe, aber nicht mit derselben Herzlichkeit und Zuneigung wie Kathy und Jeri. Er hielt mich ein kleines bisschen auf Distanz, als hätte ich mich immer noch nicht als würdiges Mitglied erwiesen.
Olympia war eine Stadt, in der man sich der Musik nicht entziehen konnte. Von der Punkszene insgesamt hatte ich nicht gerade viel Ahnung, und was die Musikkultur ganz allgemein betraf, speiste sich mein Wissen vor allem aus Magazinen wie dem Rolling Stone , die ich aber auch eher selten in die Finger bekam. Meine Kenntnis der Musikszene Olympias bewegte sich also auf einem
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