Heavy Metal (German Edition)
seinem Augenwinkel und zeichnete eine breite schwarze Kajal-Spur auf seiner Wange.
Wie oft waren sie von Annas Haus in Frauenberg aus zur „SoDa“-Brücke herüber spaziert und hatten geredet? Dort hatte sie ihn auch zum ersten Mal geküsst. Nie zuvor hatte er jemanden so sehr geliebt wie Anna. Wenn er jetzt an ihr Gesicht dachte, schien seine Brust zu explodieren. Die vergangene Woche zog im Schnelldurchlauf durch seinen Kopf. Ihr letzter Spaziergang zur „SoDa“-Brücke, die sie nie mehr gemeinsam erreichen sollten. Er hatte sie zur Rede stellen und von ihr wissen wollen, warum sie neuerdings auf diesen ganzen rechten Scheiß und vor allem so auf diesen Hans abfuhr. Ja, er war eifersüchtig gewesen. Und er hasste dieses Nazi-Pack. Er wollte, er konnte einfach nicht kapieren, wie seine kluge, süße Anna sich einem solchen Dreck hingeben konnte.
Auf der Hälfte der Strecke, mitten auf der Autobahnbrücke, war ihr Streit eskaliert. Sie hatte ihm kurz zuvor von ihrem Besuch bei Tattoo-Tom erzählt, ihm die Zeichnung auf ihrem Arm gezeigt. Ausgerechnet eine Fascho-Band! Am Ende der Brücke hatten sie sich laut angeschrien. Sie waren stehen geblieben und Anna hatte sich rittlings auf das Geländer gesetzt. Das tat sie nur, um ihn zu provozieren. Sie wusste genau, welche Angst er immer um sie hatte. Und sie wusste, dass es ihn noch wütender machte, wenn sie mitten im Streit plötzlich mit einer ganz ruhigen Stimme zu ihm sprach. Das brachte ihn zur Weißglut. Und genau das hatte sie in diesem Moment getan. Schlimmer noch. Sie hatte Sachen gesagt wie „Vielleicht finde ich, dass Hans coolere Ansichten vom Leben hat, als du?“ oder „Er ist eben einfach reifer!“ Als sie schließlich mit ihrer Klein-Mädchen-Stimme und einem Lächeln im Gesicht „Wär's denn so schlimm, wenn ich einmal mit Hans gefickt hätte?“ gesagt hatte, war irgendetwas in ihm zerbrochen. In einem Kurzschluss hatte er seine Arme nach vorne gestoßen. Anschließend war er fortgerannt, bis seine Lungen gebrannt hatten.
„Niels, alles in Ordnung? Antworte uns doch!“
Erst jetzt registrierte er, dass die Polizisten wieder mit ihm sprachen. Er drehte noch einmal den Kopf. Beide standen nun bereits ein Stückchen hinter der Leitplanke und sahen zu ihm herüber.
„Ihr solltet doch da stehen bleiben, verdammt!“
Ein Motorengeräusch hinter ihm ließ Niels den Kopf zur anderen Seite hin wenden. Ein Krankenwagen hielt dort an.
Seine Arme brannten wie Feuer und zitterten. Er zog sich mit letzter Kraft wieder näher an das Geländer heran und verwinkelte die Armbeugen dahinter.
„Niels? Hey, Niels!?“
„Haltet die Fresse!“
Er hatte gedacht, dass die Schlägerei am Samstag ihm innerlich irgendwie helfen würde. Es war einfach gewesen, sich den Ultras anzuschließen, er hatte da jemanden aus der Schule gekannt. Tief in ihm war da ein Gefühl gewesen, etwas tun zu müssen, seinen Selbsthass und seine Trauer irgendwie kanalisieren zu müssen. Sie hatten ganz klar gewonnen, aber einen von ihnen hatte es böse erwischt. Man hatte ihm erzählt, dass das Hans gewesen war. Ausgerechnet! Erst verdrehte der Wichser seiner Freundin den Kopf und dann trat er einem seiner neuen Kumpels das Gesicht zu Brei. Die Nacht in Kall zog jetzt in Bildern an seinem geistigen Auge vorbei. Alles hatte so schnell gebrannt, wie er sich das nie hatte vorstellen können. Verdammtes Pech, dass er nicht gewusst hatte, dass diese Fascho-Sau da schon im Knast gewesen war.
Er sah noch einmal links herüber. Die Sanitäter hatten sich zu den Polizisten gestellt. Einer von ihnen redete fortlaufend auf ihn ein, aber er hörte nicht zu. Weiter hinten kamen zwei Typen angelaufen. Den einen, dessen Klamotten voller Matsch waren, glaubte er aus der Ferne als den Kommissar zu erkennen, der ihn vor Annas Haus befragt hatte. Irgendwer da unten hupte. Vielleicht könnte er im Knast besser büßen, als sich einfach so davonzustehlen. Machte er es sich nicht zu einfach? Aber er wollte doch bei Anna sein! Ein heller Sonnenstrahl brach plötzlich durch die dunkle Wolkendecke, traf unvermittelt sein Gesicht und blendete ihn, so dass er den Blick wieder senkte. Unter der Brücke tauchte auf einmal wie aus dem Nichts ein kleiner Trupp Feuerwehrmänner auf, die rings um ein Sprungtuch verteilt waren. Seine Arme schmerzten so sehr. Gab es überhaupt ein Jenseits?
„Niels!“
Die Sanitäter riefen ihn erneut.
Wieder ein Hupen.
Er sah Annas Gesicht mitten im Flammenmeer von Hans
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