Hebamme von Sylt
wenn er kein Fischer sein durfte.
Mit aller Kraft hielt sie die Tür fest, damit der Sturm sie ihr nicht aus der Hand schlug. Aber sie konnte nicht verhindern, dass er mit gierigen Böen ins Haus fuhr.
Freda Boyken war es, die mit schweren Schritten auf das Haus zukam. Geesche sah sofort, dass ihre Stunde gekommenwar. Sie streckte Freda die Hand entgegen, ergriff sie, kaum dass sie die Schwangere erreichen konnte, ohne die Tür dem Wind zu überlassen, und zog sie ins Haus.
»Seit wann hast du Wehen?«
Freda richtete sich stöhnend auf und griff sich in den Rücken, als Geesche die Tür geschlossen hatte. »Noch nicht lange«, keuchte sie. »Aber ich dachte, es ist besser, wenn ich schon jetzt zu dir komme. Falls der Sturm noch schlimmer wird …«
»Dann hättest du am Ende den Weg nicht mehr geschafft«, vollendete Geesche und schob Freda zur Tür des Gebärzimmers. »Ist Ebbo etwa mit Jens rausgefahren?«
Freda schüttelte den Kopf. »Er will zum Strand gehen und sich umhören. Vielleicht ist einer der Fischer rechtzeitig umgekehrt und weiß, was mit den anderen geschehen ist.« Freda ging zu dem Strohlager in der Mitte des Raums, über das Geesche frische weiße Laken gebreitet hatte. Sie drehte sich nicht um, als sie fragte: »Er wird doch zurückkommen? Er wird doch nicht ausgerechnet heute …?«
Geesche erwartete nicht, dass sie den Satz zu Ende sprach, und sie beantwortete die Frage nicht. Dass ein Fischerboot nicht zurückkehrte, gehörte zum Sylter Alltag. In einem solchen Fall war es eine Gnade, wenn der Fischer Tage später an den Strand gespült wurde und dort beerdigt werden konnte, wo seine Wurzeln waren. Das Allerschlimmste war, wenn ein Fischer auf See blieb.
Geesche ging zu ihr, als Freda sich unter der nächsten Wehe krümmte. Sie betastete ihren Leib, dann griff sie nach Fredas Hand. »Das dauert noch«, sagte sie. »Lass uns in die Küche gehen und einen Becher Tee trinken. Dort ist es warm, da vergeht die Zeit schneller als hier.« Sie nickte zu dem Strohbett, das weder warm noch bequem aussah, sondern nichts als zweckdienlich war. Wenn die Geburt in Gang war, würde Freda von der Kälte in diesem Raum nichts mehr spüren. Aber bis es so weitwar, war sie in der warmen Küche besser aufgehoben. Freda hatte Angst, das sah Geesche. Nicht nur vor der Geburt, sondern auch um ihren Mann. Wichtig war es jetzt, ihr Zuversicht zu geben und sie abzulenken.
Freda nickte dankbar und folgte Geesche. Schwer ließ sie sich in der Küche auf einen Stuhl fallen und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wenn nur Jens da wäre …«
Geesche wandte Freda den Rücken zu, während sie den Tee aufgoss, weil sie fürchtete, dass ihrem Gesicht die Sorge abzulesen war. Wer in dieser Nacht hinausgefahren war, musste früh genug bemerkt haben, dass ein Wetter aufzog, dann war vielleicht noch Zeit zum Umkehren gewesen. Wer die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hatte, der kämpfte nun da draußen ums Überleben. Ob Andrees auch zu ihnen gehörte? Dann würde sie ihn vielleicht ans Meer verlieren. Noch in dieser Nacht! Andererseits war sie sicher, dass er gerade auf dem Meer um sein Leben kämpfen und den Kampf erst verloren geben würde, wenn der blanke Hans nach ihm griff! An Land ließ er sich schon lange nicht mehr aufs Kämpfen ein. Hier gab er sein Leben Stück für Stück hin, als wäre es nichts wert. Im Boot seines Vaters aber würde ihm das Leben kostbar genug sein, um es gegen die Naturgewalten zu verteidigen. Ja, überleben würde er am ehesten auf dem Meer. Aber was kam dann?
»Nur gut, dass dein Andrees nicht mit seinem Vater hinausgefahren ist«, sagte Freda in diesem Augenblick.
Geesche fuhr zu ihr herum. »Woher weißt du das?«
»Seine Tante war bei mir, kurz nachdem Jens losgezogen war. Sie sagte, Andrees habe seinen Vater begleiten wollen, aber der wollte es nicht zulassen. Weil Andrees doch schon in der Frühe von Dr. Pollacsek erwartet wird. Wie soll er für ihn arbeiten, wenn er in der Nacht auf See war und nicht geschlafen hat? Und was wäre, wenn die Fischer nicht pünktlich zurückkommen? Dann verliert er womöglich seine Stelle. Und was dann?«
Freda sah Geesche fragend an. Aber die zuckte nur mit den Schultern. Was dann? Das eine war für Andrees so schrecklich wie das andere. Die Arbeit an der Trasse der Inselbahn machte ihn genauso unglücklich wie die Aussicht auf ein Leben in tiefer Armut. Wer als Halmreeper mit dem Drehen von Halmen für Wäscheleinen und Binsen für sein
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