Heidelberger Wut
schüttelte den Kopf.
»Stimmt.« Meine Kollegin strich sich eine ihrer dunklen Locken aus dem Gesicht. »Das könnte wirklich Blut sein. Es ist schon einige Tage alt.«
Ich zückte das Handy und forderte Verstärkung an sowie die Kollegen von der Spurensicherung. Dann ging ich mit Frau Braun zurück ins Wohnzimmer.
»Sehen Sie nur.« Ratlos wies sie in die Runde. »Sonst ist er so ordentlich.«
Inzwischen hatten sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Ein gläserner Aschenbecher lag am Boden, in zahllose Scherben zerborsten. Daneben eine zerbrochene Flasche, die einmal einen Dreiviertelliter billigen Birnenschnaps enthalten hatte, Zeitungen, Bücher, sogar einige Schallplatten ohne Hüllen und schonungslos zertrampelt, was mir fast körperliche Schmerzen bereitete. Auch hier entdeckte ich auf dem matten Linoleumboden die gleichen dunklen Flecken wie in der Küche. Unter einem der Heizkörper schließlich zusammengeknüllt ein kariertes Flanellhemd, das mit Blut besudelt war.
»Ich kenne es«, murmelte Rebecca Braun erbleichend. »Es gehört ihm.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass der Teller des Plattenspielers sich noch drehte. Lämpchen glimmten, die Anlage war eingeschaltet. Ich betrachtete die Platte, die da seit Tagen Karussell fuhr. Mozart, das Requiem. Wie passend.
Als ich näher herantrat, entdeckte ich in einem der Glaskästen den Kopf einer großen Schlange, die zusammengerollt halb unter einem Stein verborgen lag. Ich wurde mir nicht klar darüber, ob sie mich beobachtete oder einfach nur im Halbschlaf vor sich hinstarrte. Als ich jedoch einige Schritte zur Seite trat, bewegte sich der Kopf mit. Nach und nach erwiesen sich auch andere Terrarien als belebt. In dem einen lebte eine fette schwarze Spinne, die sensibler veranlagten Menschen wochenlang Alpträume beschert hätte. In einem anderen klebte ein regloses Reptil kopfüber an der Frontscheibe und beobachtete mit äußerster Konzentration etwas, was für den Rest des Universums unsichtbar blieb.
»Hübsch, nicht?«, meinte Frau Braun, als sie meinen Blick bemerkte. »Ich finde das Grün so schön.«
»Na ja.« Ich räusperte mich.
Vangelis kam aus der Küche. Mit leiser Genugtuung bemerkte ich, dass auch sie Abstand zu den Tieren hielt.
»Was halten Sie davon?«, fragte sie missmutig. »Diese längliche Blutspur auf dem Couchtisch, die könnte von einer Messerklinge stammen.«
Während wir auf die Kollegen warteten, besah ich mir den Inhalt der Bücherregale. Xaver Seligmann musste im Lauf seines Lebens ein Vermögen für Literatur ausgegeben haben. Etwa die Hälfte waren Sachbücher. Eine Sammlung, die einem Professor für Zoologie Ehre gemacht hätte. Beim Rest handelte es sich um ein wildes Kunterbunt von Romanen, längst veralteten Reiseführern, Bildbänden und Zeitschriften, alles ohne erkennbares System in die Regale gestopft. Vangelis öffnete die Terrassentür, um Luft hereinzulassen.
Die Plattensammlung verriet Ordnungssinn und Liebe zur Klassik. Sie begann links oben mit Gregorianischen Gesängen, ging durch alle Epochen, um rechts unten mit Orff, Schönberg und Riehm zu enden. Unterhaltungsmusik kam nicht vor. Nicht einmal Jazz. Der Verschwundene musste ein ernster und nachdenklicher Mensch sein.
Draußen bremste der graue Kombi der Spurensicherung.
Rebecca Braun sollte Recht behalten. Schon nach wenigen Minuten war klar, dass es sich bei den Flecken im Haus ihres Nachbarn tatsächlich um Blut handelte. Die Frage war: Hatte er sich – vielleicht bei der Küchenarbeit versehentlich – geschnitten, oder hatte es hier eine Messerstecherei gegeben? Hinweise auf einen Kampf fanden die Kollegen allerdings nirgendwo im Haus. Die Spur auf dem Couchtisch passte zu einem schmalen Ausbeinmesser, das im Messerblock auf dem Kühlschrank fehlte. Es war verschwunden, ebenso wie der Wagen des Vermissten. War er selbst damit gefahren, oder lag er im Kofferraum? Tot oder nur verletzt? Wie immer am Beginn einer Ermittlung sagten wir ziemlich oft »vielleicht« und »vermutlich« an diesem Vormittag.
So wurde Xaver Seligmann, vor seiner Pensionierung Lehrer für Mathematik und Biologie, offiziell als vermisst gemeldet. Auch die Beschreibung seines uralten babyblauen Mazda Coupé wurde in einen Polizeicomputer getippt, und die üblichen Prozeduren begannen, während ich und meine Leute immer noch in Eppelheim waren und nach Spuren, Hypothesen, Erklärungen suchten.
4
»Können Sie sagen, wann Ihr Nachbar verschwunden ist?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher