Heidi und andere klassische Kindergeschichten
spiel wieder, spiel noch einmal!« Und die Frau war aufgestanden und kam zu Rico her. Sie gab ihm etwas in die Hand, und Rico wußte erst nicht, was sie wollte; aber es kam ihm wieder in den Sinn, daß Stineli gesagt hatte: wenn er an einer Tür geige, so gäben ihm die Leute etwas. Dann fragte die Frau freundlich, woher er komme und wohin er gehe? Rico konnte nicht antworten. Sie fragte, ob er mit seinen Eltern da sei? da nickte er Nein; ob er allein sei? er nickte Ja; wohin er jetzt gehen wolle so am Abend? Rico schüttelte unsicher den Kopf. Da kam die Frau ein Mitleid an mit dem kleinen Fremden und sie rief den Burschen herbei und befahl ihm, er solle mit dem Knaben nach dem Wirtshaus zur »Goldenen Sonne« gehen, da verstehe der Wirt vielleicht die Sprache des kleinen Musikanten, denn er sei lange fort gewesen. Dem solle er sagen, er solle den Knaben über Nacht behalten auf ihre Rechnung und ihn auch morgen auf den rechten Weg stellen, wohin er müsse, er sei ja noch so jung – »nur ein paar Jahre älter als der meinige«, setzte sie mitleidsvoll hinzu –, und er solle ihm auch etwas zu essen geben.
Der Kleine aus dem Bett schrie wieder: »Er muß noch einmal spielen«, und ließ nicht ab, bis die Mutter sagte: »Er kommt ja morgen wieder, jetzt muß er aber schlafen und du auch.«
Der Bursche ging nun dem Rico voran, und dieser wußte nun wohl, wohin er komme, er hatte die Worte der Frau verstanden.
Es war gute zehn Minuten bis zum Städtchen hin. Da mitten in einem Gäßchen trat der Bursche in ein Haus und unmittelbar in eine große Wirtsstube ein, die war dick voller Tabaksrauch und eine Menge Männer saßen an den Tischen herum.
Der Bursche richtete seinen Auftrag aus, und der Wirt sagte: »Es ist gut«, und die Wirtin kam auch gleich herbei und beide sahen sich den Rico von oben bis unten an. Wie aber die Gäste, die am nächsten Tische saßen, die Geige sahen, riefen gleich mehrere von ihnen: »Da gibt’s Musik«, und einer rief: »Spiel auf, Kleiner, gleich, lustig!« Und sie riefen alle so durcheinander, daß der Wirt kaum fragen konnte, was der Rico für eine Sprache rede und woher er komme. Rico antwortete nun in seiner Sprache, daß er über den Maloja heruntergekommen sei, und daß er alles verstehe, was sie hier sagen, aber nicht so reden könne. Der Wirt verstand ihn und sagte, er sei auch schon da droben gewesen und sie wollten noch miteinander reden, aber jetzt solle er etwas geigen, denn die Gäste riefen noch immerfort, sie wollten Musik haben.
Da fing Rico gehorsam an zu spielen, und zwar wie immer mit seinem Liede, und sang dazu. Aber von den Gästen verstand keiner ein Wort von dem Gesang, und die Melodie kam den Zuhörern wohl ein wenig einfach vor. Die einen fingen an zu schwatzen und zu lärmen, die anderen riefen, sie wollten etwas anderes, einen Tanz oder etwas Schönes.
Rico sang unentwegt sein Lied zu Ende, denn wenn er es einmal angefangen hatte, dann sang er es durch. Wie er nun fertig war, besann er sich: einen Tanz konnte er nicht spielen, er kannte keinen; das Lied von der Großmutter ging noch langsamer, und sie konnten wieder nichts verstehen; jetzt kam ihm in den Sinn und er stimmte an:
»Una seraIn Peschiera« –
Kaum waren die ersten melodischen Töne dieses Liedes erklungen, so entstand eine völlige Stille, und mit einem Male ertönten von da und dort und von allen Tischen her die Stimmen, und es wurde ein Chor, so schön wie Rico nie einen gehört hatte, daß er ganz in Begeisterung kam und immer feuriger spielte, und die Männer alle sangen immer eifriger, und war ein Vers zu Ende, so fing Rico gleich mit festem Zuge den neuen an, denn er wußte noch wohl von dem Vater her, wo es aufhörte. Und wie nun der Schluß kam, da brach aber nach dem schönen Gesang ein solcher Lärm los, wie Rico noch keinen gehört hatte. Alle die Menschen riefen und schrieen durcheinander und schlugen vor Freuden die Fäuste auf den Tisch, und dann kamen sie alle mit ihren Gläsern auf den Rico los, und aus jedem sollte er trinken, und zwei schüttelten ihm die Hände und einer die Schultern, und alle miteinander schrieen ihn an und machten vor lauter Freudenspektakel dem Rico angst und bange, daß er immer blässer wurde. Er hatte aber ihr eigenes Peschiera-Lied gespielt, das nur ihnen gehörte und das nie ein Fremder lernen konnte, und er hatte es fest und rein gespielt, als wäre er einer von Peschiera; das konnten die lebhaft empfindenden Peschierianer gar nicht genug
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