Heidi und andere klassische Kindergeschichten
und doch hatte es noch nicht gewußt, wie das kommen konnte, als die Mutter so sagte –, dann, hatte sie gesagt, solle es daran denken, wie es heiße in seinem Liede:
»Er wird auch Wege finden,Da dein Fuß gehen kann.«
Jetzt verstand auch Wiseli mit einem Male, was die Worte bedeuteten, die es vorher nur so hingesagt hatte, denn es war noch nie in der Angst gewesen. Aber jetzt war es ja geradeso, daß es gar keinen Weg mehr vor sich sah und dachte, mit ihm sei es ganz aus, denn vor ihm stand gar nichts mehr als ein großer Schrecken vor jedem Augenblick in des Vetter-Göttis Haus. Es kam aber jetzt ein rechter Trost in sein Herz, wie es wieder und wieder so sagte:
»Er wird auch Wege finden,Da dein Fuß gehen kann.«
So hatte Wiseli noch gar nie empfunden, was es sei, einen lieben Gott im Himmel zu haben, zu dem man rufen kann, wenn man sonst von gar niemandem mehr gehört wird; gar nie bis jetzt hatte es gewußt, wie wohl das tun kann. Es faltete jetzt ganz still seine Hände und fing sein Lied von vorn an, denn es wollte so gern noch etwas mehr vor dem lieben Gott sagen und zu ihm hinauf beten; es sagte auch jedes Wort mit seinem ganzen Herzen, wie nie vorher:
»Befiehl du deine Wege, Und was dein Herze kränkt,Der allertreusten PflegeDes, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn,Der wird auch Wege finden,Da dein Fuß gehen kann.«
Es war eine beruhigende Zuversicht in des Kindes Herz gefallen; nachdem es mit Vertrauen die letzten Worte noch einmal gesagt hatte, legte es seinen Kopf wieder auf das Bündelchen und schlief augenblicklich ein.
Jetzt träumte es dem Wiseli, es sehe einen schönen, weißen Weg vor sich, ganz trocken und hell von der Sonne beschienen, der ging zwischen lauter roten Nelken und Rosen durch, und war so lockend anzusehn, daß man gleich hätte darauf hüpfen und springen mögen. Und neben dem Wiseli stand seine Mutter und hielt es liebevoll bei der Hand, wie immer, und dabei zeigte sie auf den Weg hin und sagte: »Sieh, Wiseli, das ist dein Weg! Habe ich nicht zu dir gesagt:
›Er wird auch Wege finden,Da dein Fuß gehen kann‹?«
Und das Wiseli war sehr glücklich in seinem Traume, und auf seinem Bündelchen schlief es so gut, als läge es in einem weichen Bette.
----
Fünftes Kapitel.
Wie es weiter geht und Sommer wird.
----
Als die alte Trine mit dem Bericht auf die Halde zurückkam, daß Wiselis Mutter gestorben und das Kind soeben von seinem Vetter-Götti geholt worden sei, entstand ein großer Aufruhr im Hause. Die Mutter konnte sich des Klagens und Jammerns nicht erwehren darüber, daß sie den Besuch bei der Kranken nicht mehr gemacht hatte, den sie zu machen sich schon seit einigen Tagen bestimmt vorgenommen; aber sie hatte keine Ahnung gehabt, daß das Ende der armen Frau so nahe sein konnte; sie war sehr betrübt und ergriffen.
Derweilen lief Otto mit ungeheuren Schritten der Aufregung das Zimmer auf und nieder und rief zornentbrannt einmal ums andere aus: »Es ist eine Ungerechtigkeit! Es ist eine Ungerechtigkeit! Aber wenn er ihm etwas zuleide tut, dann kann er nachher nur seine Rippen zählen, wie manche davon noch ganz ist!«
»Wen meinst du denn eigentlich, Otto, von wem sprichst du?« unterbrach die Mutter den eifernden Sohn.
»Vom Chäppi«, erwiderte er; »was kann er dem Wiseli alles tun, wenn es mit ihm zusammenwohnen muß! Das ist eine Ungerechtigkeit! Aber er soll es nur probieren –.« Hier wurde Otto wieder unterbrochen, indem ein wiederholtes, heftiges Stampfen seine Stimme übertönte.
»Was machst du für ein hirnerschütterndes Gerumpel, du Miez hinter dem Ofen!« rief er aus, indem er seine Aufregung nun nach dieser Seite wandte. Miezchen kam hinter dem Ofen hervor und stampfte noch einmal mit großer Gewalt auf den Boden, denn es war bemüht, seine Füße wieder in die völlig nassen Stiefel hineinzuzwingen, welche ihm die alte Trine vor kurzer Zeit mit der größten Mühe ausgezogen hatte. Die Arbeit war sehr schwierig, und feuerrot von Anstrengung keuchte Miezchen hervor: »Du kannst sehen, daß ich so tun muß; kein Mensch kann in diese Stiefel hineinkommen ohne Stampfen.«
»Und warum müssen denn die Stiefel wieder an die Füße, da ich sie gerade eben weggenommen habe, damit sie nicht mehr dran seien? möchte ich wissen«, sagte die Trine, die noch im Zimmer stand.
»Ich gehe nach dem Buchenraine und hole auf der Stelle das Wiseli zu uns, es kann mein Bett haben«, erklärte das Miezchen
Weitere Kostenlose Bücher