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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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und die Tür fiel ins Schloß.

    Matthias nahm den Koffer und die Packtaschen vom Fahrrad und ging um das Haus herum, wo an der Giebelseite als architektonische Besonderheit eine hölzerne Außentreppe unter das Dach führte. Die Treppe war schmal und ältlich, mit Verzierungen versehen nach Art von Laubsägearbeiten. Früher war das Geländer mal weiß gestrichen gewesen, weiß und grün, das war nun abgeblättert. – Die Treppe führte auf eine Plattform, von da aus kam man in eine Dachkammer: Die Tür mußte mit einem Ruck aufgestoßen werden, auf den Dielen zeigte sich ein Schrammzirkel.
    Auf dem Fußboden stand ein Eimer für Leckwasser und unter dem Mansardenfenster ein Gartentisch und ein Stuhl und an der Wand ein Bettgestell mit ein paar alten Decken. Sonst war das Zimmer leer. Ein eiserner Ofen in der Ecke mit einem bemalten Schirm davor. Darüber eine Wäscheleine. Dies Zimmer war lange nicht benutzt worden, vielleicht hatten mal Flüchtlinge darin gehaust. Die Dachkammer gefiel Matthias sofort, er öffnete das staubblinde Fenster und hakte es fest.«Das Holz unter der Treppe können Sie verbrauchen», stand in dem Brief.«Vielleicht überweisen Sie mir gelegentlich ein paar Mark dafür.»

    Matthias beschloß, fürs erste in dieser Dachkammer zu wohnen. Sie war trotz ihrer Kargheit«anheimelnd». Der Wind rüttelte an den Ziegeln, das erhöhte noch das Gefühl der Geborgenheit:«Feuerschiff Elbe I», dachte Matthias. Er holte Brot, Butter und Wurst und das Glas mit den Narzissen herauf und stellte es auf den Tisch: Hier würde er sich Gedanken machen können über freischaffendes Lernen in je offener Behaustheit. Hier würde er die Ausformung der kleinen Charaktere planen, die man ihm anvertraute, und deren Entwicklung lange und gesegnete Jahre hindurch verfolgen, mit Tabellen, Kurven und Karteien… Die Wohnung, unten, würde er später nach und nach erobern, vielleicht eine kleine Bibliothek, Blumen – ein Aquarium.
    «Ich werde sehr lange hier wohnen», dachte Matthias,«bis an das Ende meiner Tage.»Und er sah sich wiederum mit einem bestickten Käppchen im Sessel sitzen und einen Kaktus in der Hand drehen.

    Als er eben den Koffer auspacken wollte, hörte er gegenüber einen Trecker auf den Hof fahren. Der Motor wurde nicht abgestellt, er tuckerte weiter und weiter. Vom Vorderfenster aus konnte Matthias die junge Frau mit den schwarzen Zöpfen sehen, sie stieg vom Trecker und ging ins Haus. Der Spitz lief hinter ihr her. Nun schlug eine Tür, und ein Mann schimpfte.

    Matthias machte sich an seinen Koffer. Ein bißchen Wäsche, ein Pullover, drei, vier Bücher und sein Sesam-open-you: die Lehrkartei mit den ausgearbeiteten Unterrichtseinheiten für die Landschule. Oberstufe rot, Mittelstufe gelb, Unterstufe grün. -«Die Alpen als Verkehrshindernis»,«Ein Brief geht auf die Reise»und«Wer will fleißige Handwerker seh’n?»- Wochenlang hatte Matthias im Lesesaal gesessen und die Karten vollgeschrieben. Für die Landschule war er gerüstet, ihm konnte so leicht nichts passieren. Ob nun die Hanse an der Reihe wäre, die Haltung von Rindvieh oder die Einführung des Buchstaben R – er brauchte nur die entsprechende Karte zu ziehen und hatte alles parat: Die psychologischen und pädagogischen Vorüberlegungen, Gedanken zu Didaktik und Methode: womit man am besten anfängt und womit man aufhört, den«Einstieg»also und den«Ausblick ins Leben»natürlich, alles das war auf den Karten vermerkt.

    Eine Tür neben dem Ofen führte zum Dachboden. Der ungedielte Lehmfußboden dort war bedeckt von gebrauchten Schulheften – hier hatte jemand gestöbert -, Arbeitsmappen und altertümlichen Lehrmitteln: Anschauungsbildern, einem Augenmodell aus Holz und einem Stoß kleiner Kästen mit Glasscheibe zum Reingucken.

    «MAULBEERSEIDENSPINNER BOMBYX MORI»

    stand auf einem der Kästchen, in dem ein Falter (weiblich) und ein Falter (männlich), die dazugehörige Raupe, verschiedene Kokons und ein Stückchen gefärbter Seide gefällig arrangiert und übersichtlich befestigt waren, aus dem Leben gegriffen also, mittlerweile jedoch von Milben zerfressen, und der Leim, mit dem sie festgeklebt waren, ausgelaufen. Zu fragen war, wieso nicht das ganze Wissen der Menschheit in solchen Anschauungskästen verfügbar war, sozusagen ein für allemal? In langen Korridoren aufgehängt, in denen man entlangschlendern könnte und alles bequem in sich aufnehmen.

    Man würde diese alten Kästen in ein Museum geben können, alte

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