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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Rohrstöcke und eine russische Rechenmaschine: Vielleicht standen eines Tages sogar ausgestopfte Lehrer in Glaskästen, wie Trachtenpuppen in Lebensgröße, alte Lehrer im Gehrock, dazu den Stock in der Hand, und junge Lehrer in Jeans und ohne Schlips und Kragen, mit Kollegmappe unter dem Arm?
    An der Giebelseite des Dachbodens war das Uhrwerk der Schuluhr montiert: offenbar nicht funktionierend, denn es rührte sich nicht. Matthias stieß mit dem Fuß dagegen: Das müßte doch wieder in Gang zu kriegen sein? Gleich beim Bürgermeister zur Sprache bringen, morgen oder übermorgen. Aber besser nicht, denn das Ticken würde in der Nacht stören.
    Was Matthias nicht ahnen konnte: Hier oben hatte sich einer seiner Vorgänger an einem Dachbalken erhängt. Das war schon lange her, eine unglückliche Liebesgeschichte, von der gelegentlich noch geraunt wurde.

    Matthias nahm das Augenmodell und ein paar Bücher und Hefte mit hinüber. Es waren Schönschreibhefte, nicht sehr interessant.
    Seit vielen Tausenden von Jahren floß der Bach schon durch das stille Tal. Sein Rauschen und Rieseln war ohne Ende, ob er nun im Frühling, wenn der Schnee von den Bergen schmolz, oder…
    stand da zu lesen. Der Text war sagenhaft sauber geschrieben. Aber der Kollege hatte im Jahr 1937 mit roter Tinte«kaum befriedigend! »darunter gesetzt.

    Matthias heizte ein wenig ein, weil er ausprobieren wollte, ob er das kann, einen Ofen anzünden, nahm ein paar Schulhefte dazu und Holz von der Treppe.«So werde ich das Feuer in den Kindern anfachen», dachte er und blies hinein, und außerdem sprach er laut vor sich hin, als ob er vor der Klasse stünde:«Zuerst knüllt man das Papier zusammen, sodann gibt man ein paar Holzspäne darauf, die man sich zuvor beim Tischler holt…»
    Mit dem ersten Schuljahr vielleicht einen Ofen aus Knetgummi formen, mit den Großen in einer Sprunggrube einen Vulkan?

    Als das Feuer brannte, strich er sich Brote, eines neben dem anderen. Die Wurst war ausgezeichnet, und beim Brot handelte es sich um reguläres Bauernbrot, schon lange nicht mehr gewußt, wie gut Brot schmecken kann.
    Vom Tisch aus überblickte Matthias den Schulhof mit Birnbaum in der Mitte und einer von Brennesseln überwucherten Sprunggrube. Die Türen der Schülerklos standen offen. Das würde zu ändern sein, offene Türen? So etwas würde man nicht durchgehen lassen. Liederlich sah das aus.

    Der glattgetrampelte Schulhof war zum Zaun hin frisch begrünt, dahinter gelbbetupfte Wiesen und ein stiller dunkler Wald. Die Seele des Deutschen kommt aus dem Walde. Vielleicht würden im Winter ja Rehe heraustreten aus dem Dickicht und vertrauensvoll herüberäugen?
    Wald… man würde mit den Kindern auf Waldwiesen Lieder singen, vielleicht Höhlen bauen, an das Urmenschliche anknüpfen und von dort aus Gesittung und Kenntnis behutsam aufrichten und einüben.«Einschleifen», wie das auch genannt wurde. Das psychogenetische Grundgesetz, oder wie hieß es? Gab es das? Zunächst auf allen vieren herumlaufen und grunzen und sich dann allmählich erheben zum aufrechten Homo sapiens und dann als Lehrer, Kraftfahrer oder Postbeamter seine Pflicht tun im Dienste der Gesellschaft.
    «Dies war ein Lehrer, der mit der Natur auf du und du stand…», würde es dann von ihm eines Tages heißen.«Er sprach mit den Tieren und mit den Blumen…»

    Matthias biß von dem Wurstbrot ab und las in einem Volksschullehrerbuch, das er auf dem Dachboden gefunden hatte. Auf einer Tabelle war zu sehen, wieviel Prozent der Lehrerschaft kriegsbeschädigt war und wieviel Prozent heimatvertrieben. Es gab da auch Auflistungen über«Störfaktoren»des Lehrerberufs.«Zu große Klassen»-«Ungenügende Ausstattung der Dienstwohnung»-«Residenzpflicht». Daß die Klos oftmals nur über den Hof zu erreichen sind und man in den Schulferien nicht so ohne weiteres verreisen darf und in die Ostzone nur mit Genehmigung.
    Matthias hatte sich eine möglichst primitive Schule gewünscht, mit wenig Komfort und weit hinter dem Mond – er stellte sich vor, daß es in einem baufälligen Gebäude leichter sei, die Talente sich entfalten zu lassen. Wie aus einer japanischen Papierblume würden sie sich erheben… Allem Anschein nach hatte er mit Klein-Wense ins Schwarze getroffen.
    Auf einmal schwirrte es, und ein Sperling kam geflogen. Der Vogel flog durch die Kammer und landete auf dem Tisch und pickte von den Brotkrümeln.
    Matthias öffnete das Fenster und ließ ihn hinaus. Gern hätte er es

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