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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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jemandem geschrieben, daß er hier wie der heilige Franz von Assisi mit den Vögeln des Himmels das Brot teilt, aber es gab niemanden, dem er das hätte schreiben können.
    Er nahm ein Foto aus dem Koffer und stellte es unter die drei Narzissen. Die letzten stillen Tage mit Lilli – das eiserne Bettgestell, auf dem sie die Abende verbracht hatten, von acht bis zehn, die Kuckucksuhr an der Wand. Die glattgestrichene Bettdecke, die Messingkugeln am Bettgestell.
    «Warum?»hatte sie gesagt, und:«Laß uns noch einmal von vorn anfangen…»

    Am Bahnhof hatten sie Würstchen mit Kartoffelsalat gegessen, im Stehen, die drei Mark und siebzig war er ihr schuldig geblieben, und der Zug hatte Verspätung gehabt. Diese Sache würde nicht wieder aufzugreifen sein, sonst würde es mit dem Lebensstart Nummer 3 nichts werden.

    Im Koffer lagen auch Fotos von seinen Eltern, die ließ er da liegen. Von der Mutter besaß er zehn völlig identische Fotos, die hatte der Fotograf damals versehentlich abgezogen, der Packen wurde mit einem Gummiband zusammengehalten, rätselhaft, wieso sie immer noch existierten.

    Sonderbarerweise kam schon wieder der Sperling geflogen, obwohl Matthias ihn doch eben erst hinausgelassen hatte. Es mußte hier irgendwo einen zweiten Eingang geben, ein Schlupfloch. Fenster auf, Vogel raus. Vielleicht war ein Dachziegel locker?

    Jetzt klappte die Zaunpforte, jemand kam die Treppe herauf, Stufe für Stufe, mit schwerem Schritt, stieß ans Geländer; es wurde an die Tür geklopft, ja geschlagen, jemand warf sich dagegen. Und mit der auffliegenden Tür trat ein kleiner alter Mann ins Zimmer, unrasiert und verschrumpelt. Es war der Bauer von gegenüber, Freede hieß er, und der stellte sich mitten ins Zimmer.
    «Der Gesichtsschnitt der nordischen Rasse wirkt eigentümlich kühn durch ein dreimaliges Anspringen der Linie des Gesichtsschnitts: erst in der flächig zurückgeneigten Stirn, dann in der aus hoher Nasenwurzel entspringenden graden oder nach außen gebogenen Nase, endlich in dem betonten Kinn. Die Weichteile unterstützen den Ausdruck eines klar gezeichneten Gesichts.»
    Mit krächzender Stimme machte sich der Mann bekannt mit Matthias. Er wollte wissen, was sein Vater von Beruf gewesen sei, Beamter?, bei der Stadt?, im Krieg gefallen? Und dann begann er ohne weiteres mit seiner eigenen Lebensgeschichte, und er brachte sie in einem unverständlichen Platt vor, Matthias konnte nur ahnen, um was es ging. Es handelte sich um die vom vielen Erzählen episch ausgefeilte Lebensgeschichte des Bauern, in erprobten Stanzen, rhythmisch einwandfrei, nicht ohne dramatische Höhepunkte, und der Mann hatte eine helle, scharfe Stimme. – Sein Sohn wär’ auch gefallen, sein einziger Sohn, 1941, und er wär nun schon seit vierzehneinhalb Jahren Witwer, und er hätt’ seine Tochter so ziemlich allein großgezogen, der Sohn gefallen, auf den letzten Drücker noch, und die Tochter immer noch«leddig».
    Danach verbreitete er sich über den Kollegen Schmauch, daß der nicht verkehrt gewesen sei, aber eben zuviel gluck-gluck, guten Rechenunterricht habe er gegeben, und seine Frau sei eine tüchtige Handarbeitslehrerin gewesen, alles, was recht ist. Er entwickelte seine Ansichten über Pädagogik: Streng, aber gerecht müßten Kinder behandelt werden, schlug mit der Faust auf den Tisch, ord’lich welche überziehen, sonst wird das nichts mit die Jugend. Er hielt ihm seine krummen Hände hin: frisch geborene Kälber mit Stroh abwischen und Ferkeln die Zähne rausbrechen…
    Daß er in der Schule früher welche mit dem Stock auf die Finger gekriegt habe, und – auf Erbsen knien! Warum nicht? Im Dorf hätte keiner was dagegen, wenn er die Kinder tüchtig rannehme,«’ne Jackfull»habe noch keinem geschadet…
    Und er jagte den Sperling fort, der schon wieder hereingekommen war, und Matthias dachte: Schade, dieses liebe Tier, jetzt ist es auf ewig verschreckt. Er hätte den Vogel dressieren können, daß er ihm auf der Schulter sitzt, und dann mit dem Tier auf der Schulter durchs Dorf gehen: So einen Lehrer haben wir! Unser Lehrer steht mit den Tieren auf du und du! – Daraus würde nun nichts werden.

    Matthias sah auf sein halbmondig angebissenes Wurstbrot. Es war offensichtlich, daß er den Bauern so leicht nicht loswerden würde. Der schöne Abend war futsch. Aber:«Nahberschaft»- da mußte man vorsichtig sein. Der alte Petersen hatte wieder und wieder auf gute Nachbarschaft hingewiesen und daß man sich einordnen

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