Heimat Mars: Roman (German Edition)
keinem Ort hielt ich mich länger als ein paar Stunden auf. Wir trauten den Erklärungen der Erde nicht. Wer einmal verraten wird, entwickelt hundertfaches Misstrauen.
Fünf Tage nach dem Ortswechsel von Phobos lud man mich ein, seiner Rückkehr von einer Aussichtskuppel aus, die sich in Paschel nahe beim Cassini-Becken befand, als Zeugin beizuwohnen. Die Gouverneurin von Arabia Terra, Lexis Caer Cameron, drei ihrer Stabsleiter, Dandy Breaker und Lieh Walker standen neben mir unter einer weiten Plastikkuppel. Wir hielten Sektgläser in den Händen und blickten diesmal nach Osten.
»Ich wüsste verdammt gern, was das alles bedeutet«, bemerkte Gouverneurin Cameron.
»Ich auch«, sagte ich.
Lieh äußerte eine kühne Vermutung: »Es bedeutet, dass sie uns nie mehr in die Knie zwingen können.«
Ich lächelte, obwohl ich ihren Optimismus nicht teilte. Unser Sieg würde nur kurzlebig sein.
»Noch dreißig Sekunden«, meldete Lieh.
Wir warteten. Ich war so erschöpft, dass ich kaum noch klar denken konnte. Ich brauchte eine gründliche Erholung. Teufel noch mal, ich fühlte mich so, als könnte ich einen völlig neuen Körper brauchen.
Phobos tauchte in unserem Blickfeld auf, eine Sichel, die neun oder zehn Grad über dem Horizont materialisierte. Nachdem Lieh ein paar Messungen vorgenommen hatte, waren wir sicher, dass sich Phobos wieder in seiner üblichen Umlaufbahn befand.
Der Furcht einflößende Hund war wieder daheim und hatte seinen Ausflug offenbar unbeschadet überstanden.
Ich trank nichts von meinem Sekt. Ich bedankte mich bei der Gouverneurin und reichte ihr mein Glas. Dandy führte mich rasch aus der Mitte der Versammelten. Keine Zeit zum Verweilen …
Lieh stellte Verbindungen zu neuen SATKOMS her und zeigte mir LitVid-Reaktionen aus dem ganzen Dreierbund. Ich sah und hörte schweigend zu. Inzwischen fühlte ich mich nicht nur benommen, sondern wie erstarrt und von der Wirklichkeit abgeschnitten. Von Ilya hatte ich seit dem Einfrieren des Mars (so hatten marsianische LitVids den kurzen Krieg getauft) nichts mehr gehört.
Innerhalb des Dreierbundes war die Wut auf die Erde zunächst aufgeflackert, hatte sich dann gelegt und war jetzt neu entflammt. Es war sogar der Ruf laut geworden, alle Rohstofflieferanten im Weltraum sollten sich zum Generalboykott der Erde zusammenschließen. Ein solcher Boykott war zwecklos – die Erde hatte, um den Schwankungen des Marktes entgegenzuwirken, auf Jahre hinaus Vorräte angelegt. Aber das politische Echo würde ihr zu schaffen machen.
Ingenieure aus Städten des Asteroidengürtels flogen in Scharen zu den Konsulaten der Erde und verlangten Erklärungen für den Angriff auf den Mars. Der Mond hielt sich, wie erwartet, eher bedeckt. Aber selbst dort empörten sich unabhängige Organisationen und forderten voller Angst und Wut Rücktritte, Untersuchungen und Volksabstimmungen, um bestimmten politischen Vertretern das Misstrauen auszusprechen. Ein paar unabhängige BGs des Mondes erklärten ihre Solidarität mit der bedrängten Bundesrepublik Mars. Das Echo der Angst konnte ich quer durchs Sonnensystem vernehmen, besonders in den verwundbaren Gürtelsiedlungen. Niemand im Dreierbund konnte der alten Mutter Erde noch trauen.
Schließlich forderte der Präsident der Vereinigten Staaten der Westlichen Hemisphäre eine Untersuchung der Konfliktursachen. »Wir müssen wissen, was geschehen ist, und herausfinden, wer diese Befehle gegeben und wer sie ausgeführt hat«, schloss er seine Rede. »Nur so können wir noch schlimmere Katastrophen zukünftig verhindern.«
»Kehr vor deiner eigenen Haustür«, murmelte ich. Ich traute keinem Politiker der Erde über den Weg.
»Sehr interessant«, sagte Lieh und reichte mir ihr Kom. Sie hatte sich durch mehrere Programme gezappt und bis zu einem kleinen, exklusiven Beratungsnetz der Erde namens ›Lumen‹ vorgearbeitet. Lieh erzählte mir nicht, wie sie den Zugriff auf diesen kostenpflichtigen Dienst geschafft hatte. Auch der Mars hatte seine Tüftler und Hacker, und Point One hatte zweifellos viele der besten rekrutiert. »Das haben sie vor sechs Stunden an ihre Abonnenten geschickt.«
Eine stattliche ältere Frau mit erschöpftem, faltigem Gesicht, die ein adrettes grünes Schneiderkostüm trug, saß steif in einer unbewegten Nahaufnahme. Sie rief Berichte von der ganzen Erde ab und kommentierte sie auch. Auf den ersten Blick wirkte das Programm selbst nach marsianischen Maßstäben langweilig und antiquiert. Aber ich
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