Heimat Mars: Roman (German Edition)
Augenblick innehalten, mich entspannen und das Erzählte nochmals überdenken. Ich kann mich an die Gefühle jenes Moments so lebhaft erinnern, als sei ich wieder in dem Saal. Beim Schreiben der letzten Zeilen habe ich wie ein kleines Mädchen geweint. Dieser Moment war der Höhepunkt meines Lebens. Vielleicht deswegen, weil alles, was danach kam, so traurig und ungeheuerlich war, dass es gar nicht real wirkte.
Die Ereignisse danach sind ganz unwirklich. Sie drängen sich wie tote Geschöpfe in meine Erinnerung. Tote Geschöpfe, wie sie flach und zusammengepresst auf uraltem Meeresgrund zu finden sind.
Ich behaupte nicht, dass ich dafür nicht verantwortlich war. Ich war mehr als die meisten Menschen in diese Ereignisse verstrickt und trug deshalb auch mehr Verantwortung. Man hat mir die ganze Schuld aufgeladen, und ich nehme sie auf mich.
Phobos tauchte am Himmel der Erde in einer elliptischen Umlaufbahn auf, die um dreißig Grad zum Äquator hin geneigt war. Ihr kleinster Abstand zur Erde betrug tausend Kilometer, ihr größter siebentausend.
Phobos’ strahlend helles Antlitz, das schnell an- und abschwoll, veränderte das gesamte Gleichgewicht derart, wie es sonst nie möglich gewesen wäre. Der Mars konnte Monde auf die Erde fallen lassen. Im strategischen Gleichgewicht waren wir jetzt zum Zünglein an der Waage geworden.
Die Erde wusste nicht, dass sich auf Phobos auch die Ausrüstung und die Menschen befanden, die für die Durchführung dieser Machtdemonstration wesentlich waren. Was sie nicht wussten, schwächte sie.
Und was die Erde bald erfahren oder erraten würde, konnte letztendlich uns schwächen.
Innerhalb von sechs Stunden wurden die Evolvons auf Befehl von Satelliten der Erde im Marsorbit außer Kraft gesetzt. Danach zerstörten sich die Satelliten selbst und ließen winzige rote Streifen am dunklen Himmel zurück. Man versicherte uns, es seien keine Heuschrecken auf dem Mars stationiert. Die momentane Verwirrung und Schwäche zwang uns, diese Aussage erst einmal zu akzeptieren. Der Mars erwachte wieder zum Leben. Der Kreislauf der Informationen kam wieder in Gang.
Die von Amateuren in den letzten Tagen eingerichteten Kommunikationsnetze wurden erfasst, formalisiert, strukturiert und für einen späteren Einsatz startklar gemacht. Man würde uns nicht mehr so ungewappnet erwischen. Auf dem ganzen Mars richteten Techniker in den Siedlungen einfache, aber sichere Informationssysteme ein. Diese Systeme warfen uns zwar um fünfzig oder mehr Jahre zurück, aber sie stellten sicher, dass wir Luft und frisches Wasser zur Verfügung haben und nie mehr dem hautnahen Schrecken der Raumkrankheit in entlüfteten Tunneln ausgeliefert sein würden.
Der Mars zählte seine Toten. Jede Schreckensnachricht wurde im ganzen Dreierbund ausgestrahlt. Die aggressive Taktik der Erde war – wenigstens vorläufig – nach hinten losgegangen.
Alice Eins und Zwei gehörten zu den Opfern. Die Hälfte der Hochleistungsdenker konnte nicht wieder in Betrieb genommen werden. Ihre Speicher konnte man retten und Teile ihrer Persönlichkeit aufzeichnen. Sie würden in anderen Denkern Verwendung finden. Aber das Wesentliche – die Seele der Denker – war erloschen. Ich konnte nicht um sie trauern. Es gab zu viel zu betrauern. Wenn ich erst einmal damit anfing, würde ich kein Ende finden. Und ich wartete immer noch auf Lebenszeichen von Ilya und Ti Sandra.
Zwei Tage lang strömten Züge und Shuttles in die neue Hauptstadt. Sie brachten Abgeordnete und Juristen, denen es am Herzen lag, die Unabhängigkeit der Republik, ja ihre Daseinsberechtigung überhaupt, erneut zu bestätigen und zu festigen. Es kamen auch neue Geräte und Experten an. Die technischen Spezialisten hatten sich vorgenommen, alle Computer und Denker auf Herz und Nieren zu prüfen und die Viren der Erde zu beseitigen.
Zwei Tage lang übernahm ich als Präsidentin die gesamte Koordination. Ich wusste, dass es nur auf Zeit war. Auch wenn ich es nicht mit Sicherheit sagen konnte, so nahm ich doch an, dass Ti Sandra irgendwo überlebt hatte. Dass sie jetzt nicht auf der Bildfläche erschien, beunruhigte mich. Es sah ihr gar nicht ähnlich, angesichts des leichten Risikos der Situation einfach auf Tauchstation zu bleiben. Ihre Rückkehr war politisch notwendig, schon deswegen, damit den Bürgern des Mars der Rücken gestärkt wurde.
Ich schlief nicht mehr, hatte kaum Zeit zum Essen und reiste in Arabia Terra mit Zug oder Shuttle von Siedlung zu Siedlung. An
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