Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
erfordert die Zurückhaltung der Frau in der Öffentlichkeit. In einer traditionellen Stadt am Mittelmeer kann man genau sagen, wo Frauen und wo Männer sich bewegen. Die Frauen gehen zwischen den Häuserblocks und durch die kleinen Gassen. Die Männer stolzieren auf Hauptstraßen und beherrschen die große zentrale Piazza . Auch hierzulande galten bis vor kurzem ähnliche Regeln. Meine Frau kann sich noch gut erinnern, dass in ihrer Kindheit Männer und Frauen in der Kirche säuberlich getrennt saßen. Wenn wir genau hinschauen, sehen wir vermeintlich Fremdes mitten in der eigenen Kultur.
Den meisten Menschen dieser Welt sind diese Spielregeln der Sitzordnung oder des Raumverhaltens so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sie gar nicht bemerken. Deshalb beobachten Ethnologen so etwas eher, als dass sie danach fragen. Wie streng die Regeln sind, wird einem erst klar, wenn man als Tourist ins Fettnäpfchen tritt oder als Ethnologe am Anfang einer Feldforschung immer wieder Fehler macht. Dann kommt zutage, welche Kategorien von Personen unterschieden werden und welche Plätze ihnen zustehen. Setzt man sich in einer Südseekultur zum feierlichen Mahl zusammen, richtet sich die Sitzposition danach, ob man Häuptling, Clanchef, verheirateter Mann, junger Mann, »ganz junger« Mann, Frau des Häuptlings, ältere Frau, verheiratete Frau oder Mädchen ist. Nur die ganz Kleinen wuseln überall herum. Wer an diese Regeln nicht gewöhnt ist, für den scheinen sie das Leben unnötig kompliziert zu machen, aber für die Menschen vor Ort sind sie ganz selbstverständlich.
Auch in unserer eigenen Kultur folgen wir Spielregeln der Raumnutzung, die so vertraut sind, dass wir sie gar nicht bemerken. Oft kommen hier spezielle kulturelle Regeln mit allgemeinmenschlichen Neigungen zusammen, zum Beispiel beim Körperabstand zu Menschen, die wir nicht kennen. Wie präzise der Abstand geregelt ist, wird einem erst klar, wenn man im Gedränge der U-Bahn einem anderen ganz nah auf die Pelle rücken muss. Mit einem Mal spüren wir den Stress der Nähe, sei es durch Berührung oder den Körperschweiß der anderen Person. Dann können wir an uns selbst die vergeblichen Fluchtversuche beobachten: Wir schauen gebannt irgendwohin, obwohl dort gar nichts zu sehen ist, oder schirmen uns mit der Zeitung ab.
Auch bei uns gibt es Demutsgesten. Sie erscheinen uns nur deshalb nicht so exotisch wie bei den Zulu und Hawaiianern, weil sie uns so vertraut sind. In Europa hält man eine Hand zum anderen hin, beugt sich leicht und zieht den Kopf ein. Man »gibt die Hand«. In übertriebener Form ist das ein typisch unterwürfiges Verhalten, man »macht einen Diener«. Schauspieler treten nach der Aufführung auf die Bühne und verbeugen sich vor dem applaudierenden Publikum bis fast zum Boden. Der junge Soldat steht stramm und schaut dem höhergestellten Offizier nicht in die Augen. Der gläubige Katholik geht in die Knie und küsst den Ring des Bischofs.
Wir wissen es nicht ganz sicher, aber vermutlich haben alle Kulturen Gesten, Raum- und Sitzordnungen, die Hierarchien spiegeln. In fast allen Gesellschaften sagt die Sitzhöhe etwas über den Status einer Person aus. Natürlich sitzt die höhergestellte Person immer auf der erhobenen Position. Oben ist oben, unten ist unten. Aber warum ist das eigentlich so? Es wäre doch auch denkbar, dass die höhergestellte Person tiefer sitzt. Immerhin soll es Kulturen geben, wo die Hohepriesterin tiefer sitzt als alle anderen, weil sie damit der Göttin in der Erdmitte näher ist. Es geht also. Eine Kultur kann sich so verhalten. Wir haben kein »Hierarchisch-oben-gleich-oben-sitzen-Gen« in uns. Warum halten wir diese Variante jedoch als allgemeine Regel für unwahrscheinlich? Warum gibt es keine Kultur, in der die Mächtigen üblicherweise unten oder hinten sitzen?
Nun könnte man dazu Verhaltensforscher fragen – die berichten, dass auch bei anderen Primaten die höherrangigen höher sitzen – oder komplexe Spekulationen psychoanalytischer Natur anstellen. Man kann das Phänomen aber auch ganz praktisch erklären. Höher Platzierte werden einfach von allen besser wahrgenommen. Da die Mächtigen »etwas zu sagen haben«, ist es gut, dass man sie besser hört.
Oben und unten sind in allen Gesellschaften wichtig, trotz aller Unterschiede, die auf den ersten Blick ins Auge fallen. Ein Freund erzählte mir von einer Kurzeinführung in die japanische Sprache, an der er vor einigen Jahren teilnahm. Der
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