Heimat
oder vorenthält. Nicht nur der Bund der Vertriebenen verharrt seit Jahrzehnten in einer Art nostalgischer Trotzhaltung nach dem Motto: Alle dürfen Opfer sein, nur wir nicht. »Es ist an der Zeit, deutsche Vertriebene endlich als Opfer zu begreifen«, schrieb Andreas Kossert noch im Jahr 2008. 279 Als ob die Opferrolle 60 Jahre lang übersehen worden wäre.
Mit der Heimat ist es so ähnlich: Alle dürfen eine haben, nur wir nicht, und nur wegen dem blöden Hitler. »Entschuldigung, Heimat - darf ich das sagen?«, fragt der Schauspieler Clemens von Ramin rhetorisch. »Darf ich das eigentlich heute noch sagen? Entschuldigung, ausgerechnet ich, deutsch, groß, blond und blauäugig, darf so einer wie ich, ausgerechnet ich das Wort Heimat heute noch auf der Zunge tragen? Darf ich von deutscher Sprache, deutschen Tugenden oder gar deutschen Werten sprechen?« 280 Da schwingt schon wieder die Bedrohung mit, oh, es will sie uns jemand wegnehmen, die Heimat. Diesmal sind es die bösen Linken oder die internationale Moralpolizei oder: wer denn eigentlich? Wir bestätigen uns seit etlichen Jahren immer aufs Neue gegenseitig, dass wir das verpönte Gefühl nun endlich wieder haben dürfen, dass wir, ja
selbst wir, vielleicht oder doch nicht…? Es ist Zeit, sich von dieser pseudomoralischen Koketterie zu verabschieden. Wir haben, wir dürfen. Bitteschön. Und dann könnten wir bald mal aufhören, uns ausschließlich um uns selbst zu drehen.
Heimat hat einen wahren, echten, unpolitischen Kern. Die Chance ist da, ihn freizulegen. Der Schlüssel liegt in der vorsichtigen Neubestimmung unseres Verhältnisses zur Nation, auch wenn diese Größe in Zeiten von Europäisierung und Globalisierung Federn gelassen hat. Wie gesagt: Heimat und Nation hängen zusammen, sie sind aber nicht eins. Jahrhunderte lang war Heimat den Deutschen immer wieder auch Ersatz für die fehlende Identifikationsebene Nation - in den Wirren der Reichsgründung, unter Bismarck, nach dem Zweiten Weltkrieg, in der DDR. Seit der Vereinigung haben die Deutschen ihr Verhältnis zur Nation zumindest so weit geklärt, dass diese die politische Funktion der Heimat übernehmen könnte.
Wir haben die Leitkulturdebatte hinter uns gebracht und die schwarz-rot-goldene Fußball-WM von 2006. Die »heimatlose Generation« durfte sich noch einen Moment verloren fühlen, auch ich. Ich fand das befremdlich, dass plötzlich Menschen, die ich persönlich kannte und mochte, Deutschlandfähnchen am Autodach flattern ließen. Befremdlich war es, aber dann doch nicht bedrohlich. Wir haben es überstanden. Wir sind nach Deutschland zurückgekehrt.
Das Bauchgrimmen ist bei vielen noch da, die innere Distanz, und das soll auch schön so bleiben. »Das Große, das Starke, das Mächtige hat sich in den Augen der großen Mehrheit der Deutschen durch die schrecklichen Erfahrungen des Dritten Reiches diskreditiert«, schreiben die Autoren der Studie »Deutsch-Sein«. Die Schuld werde tief empfunden, doch seien die Deutschen bereit für einen Neuanfang und »verzweifeln nicht mehr an der eigenen Vergangenheit.« 281 Damit dürfen wir nun getrost die Legende vom verbotenen Deutschsein hinter uns lassen. Nabelschau Adé. Wir können den politischen Ballast von der Heimat auf die Nation schieben, denn da gehört er hin, und uns auf ein unpolitisches, kommerzfreies, tief menschliches Bedürfnis besinnen: Gründung, Geborgenheit, Gemeinschaft.
Es herrscht Heimatbedarf. Der Satz gilt.
Millionen Menschen driften, ob nun geografisch oder ökonomisch oder virtuell. Wir machen die zehnte Klasse an einer High School in Omaha, Nebraska, und nach dem ersten Studienjahr ein Austauschsemester in Mumbai. Dazwischen ziehen wir sieben Mal um. Die Jungen hangeln sich vom Praktikum zum Aushilfsjob zum befristeten Vertrag, während die letzten Besitzer von Festanstellungen darüber sinnieren, wann es auch für sie so weit ist. »Die alten Bindungen werden lockerer, das gilt für Parteien wie Automarken«, weiß der Psychologe Wolfgang Plöger, der auch befindet: »Da löst sich ein Urvertrauen in nichts auf.« 282 Stetigkeit und Verlässlichkeit? Schön wär’s.
Es ist alles so ermüdend geworden. Wir kriegen 122 Emails und 34 SMS am Tag und berauschen uns am Rauschen auf allen Kanälen. Vereinheitlichung wird beklagt, vielleicht zu recht. Aber genauso sehr atomisiert sich die Wirklichkeit. Vorbei die Tage, an denen alle am Vorabend in der ARD den gleichen Film geschaut hatten. Es gibt
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