Heimkehr
und der ganze Abhang war mit unzähligen winzigen Blumen bedeckt. Es waren meist gelbe und blaue, deren Namen Leslie auf Anhieb hätte sagen können.
»Wieso weißt du, was ich denke?« fragte ich. »Habe ich dir den Schlüssel zu meiner Psyche gegeben? Beobachtest du alles, was ich mache?«
Statt eines Steines reichte er mir wortlos ein kleines Segelflugzeug aus Balsaholz. Seine Tragfläche hatte eine Spannweite von zwölf Zoll. Zum Ausgleich war ein kleiner Klumpen Lehm an der Flugzeugnase befestigt.
»Ich beobachte gar nichts«, sagte er. »Ich sehe dein Leben nur, wenn du es mir gestattest. Aber neuerdings weiß ich, welche Erfahrungen du sammelst. Das war vorher nicht so.«
War meine Privatsphäre verletzt, weil er inzwischen soviel Raum in meinem Denken beanspruchte? Empfand ich es als unangenehm, daß er in Erfahrung zu bringen versuchte, was ich wußte?
Ich lächelte: »Nun ja, du wirst erwachsen.«
Er blickte mich erstaunt an. »Das stimmt nicht. Hast du das schon vergessen? Ich bin neun Jahre alt, Richard, und ich werde nie älter sein.«
»Warum willst du alles wissen, was ich weiß, wenn du nicht vorhast, ein Leben mit allen meinen Vorzügen und ohne meine Fehler zu führen?«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich dein Leben auch leben möchte. Ich habe gesagt, ich möchte wissen, wie es wäre, wenn ich es täte. Für den Mann, zu dem ich werde und der sich in seinen Handlungen nach dem richten wird, was ich jetzt von dir erfahre, werde ich genauso neun Jahre alt sein, wie ich es für dich bin. Sage mir bitte, was wahr ist… Ich weiß nicht, was ich von gut und böse halten soll, und ich muß es wissen!«
»Was ist denn nicht klar?« fragte ich. »Gut ist, was dich…«
»Es… simplifiziert die Sache!« sagte er und verwendete das Fremdwort mit Behagen. »Ich könnte sie so erklären!«
»Hör schon auf damit, Kapitän. Erstens bist du nicht dumm, zweitens ist meist das Einfache wahr, drittens bin ich, der Kerl, dessen Erfahrungen dich so interessieren, über fünfzig Lebensjahre von dir entfernt. Wird denn die Sache simplifiziert, wenn du das Wort ›gut!‹ vernimmst und, bevor du ihm zustimmst, überlegst, wer das gesagt hat und warum?«
Ich balancierte das Segelflugzeug aus und warf es in die Luft. Es wollte nicht fliegen und stürzte aus vier Fuß Höhe steil ab. Offensichtlich war die Nase des Flugzeuges ein wenig zu schwer.
»Es muß noch mehr hinter dem Guten stecken, als daß es mich nur glücklich macht«, sagte er.
»Sicherlich steckt mehr dahinter. Momentane Genugtuung muß nicht langwährende Glückseligkeit bedeuten. Wir müssen nachdenken, um den Unterschied zu erkennen. In jeder Sie-verkauften-dem-Teufel-ihre-Seele-Story ist der Deal mit dem Satan der gleiche: Die langwährende Glückseligkeit wird gegen ein kurzfristiges Vergnügen eingetauscht, und die Moral der Geschichte ist immer: Es ist kein allzu gutes Geschäft!
Dann gibt es den Konsens von gut und böse, die von vielen Menschen akzeptierten Werte mit den abgerundeten Kanten. Verschiedene Kulturen können unterschiedliche Auffassungen über das haben, was gut und was nicht gut ist, aber jede für sich genommen ist sich im allgemeinen darüber einig, was sie unter gut und böse versteht.«
»Muß das denn so verschwommen sein? Warum kann es nicht klarer sein? Ich habe eindeutige Definitionen.«
»Mord ist…«
»Schlecht«, sagte er, ohne zu zögern.
»Nächstenliebe ist… «
»Gut.«
Ich kratzte etwas Lehm von der Nase des kleinen Segelflugzeuges. »Ein Wehrdienstverweigerer in Kriegszeiten zu sein ist…?«
»Hm.«
»Ist es gut oder schlecht, den Wehrdienst zu verweigern?« wiederholte ich meine Frage.
»Warum gibt es diesen Krieg? Verteidigen wir uns selbst, oder greifen wir irgendein wehrloses kleines Land an?«
»Sieh mal einer an!« sagte ich. »Sobald man eine Situation hat, in der gut oder schlecht von den Umständen abhängt, nimmt das ganze Konzept subjektiven Charakter an, und es wird nie wieder die klare Alternative geben, die sie in unseren Augen einmal war. Wie bei jedem anderen Werturteil müssen wir sagen, dies ist gut für mich, und das ist schlecht für mich.«
Ich stieß das kleine Segelflugzeug erneut vorsichtig ab. Es stieg steil in die Höhe und fiel danach sanft ins Gras.
»Eine Ausnahme verändert noch nicht die Regel!«
»Das stimmt«, antwortete ich und hob das Segelflugzeug wieder auf. Ich ärgerte mich über das Schwerpunktproblem und fügte dem kleinen Klumpen auf der Nase des
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