Heimkehr am Morgen (German Edition)
Haustür. Sie fragte sich, wer das sein könnte, und rannte nach unten, um sie zu öffnen. Durch die Türscheibe erkannte sie Helen Cookson, Eddies Mutter.
Helens fein geschnittenes Gesicht wirkte mitgenommen und verhärmt. Ihr hochgestecktes Haar war von Silberfäden durchzogen,und Jessica hatte den Eindruck, als hätte sie nicht mehr geschlafen als sie selbst.
»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, sagte Helen mit zitternder Stimme. Hinter ihr wickelte Horace die Zügel um die Bremse ihres Fuhrwerks. »Wie geht es meinem Jungen?«
Jess trat zur Seite und ließ sie ein. »Sein Fieber ist höher, als mir lieb ist, und in manchen Augenblicken ist er … verwirrt.«
»Verwirrt?«
»Im Delirium«, räumte Jess ein. »Ich gebe ihm Medizin, bin jedoch nicht sicher, wie viel das hilft. Was er vor allem braucht, sind gute Pflege und Ruhe.«
»Cole meint, es ist die Influenza.« Wie Helen es sagte, klang es sehr ernst.
Die Influenza.
»Ja.« Wenigstens hatte sie nicht
Pest
gesagt.
Horace, in Latzhose und blaugestreiftem Arbeitshemd, trat ein. Die Arbeitskleidung schien besser zu ihm zu passen als das weiße Hemd und die schiefe Krawatte, die seine Bürgermeisterpflichten erforderten. »Musste erst die Kühe melken. Die Kühe können nicht warten.«
Helen bedachte ihren Mann mit einem kühlen Blick, die Lippen zusammengekniffen. »Kann ich zu ihm?«
»Ja, natürlich. Eddie ist oben.«
Als sie außer Hörweite war, wandte sich Horace in vertraulichem Ton an Jess. »Helen ist richtig hysterisch geworden. Natürlich bin ich Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich um unseren Jungen gekümmert haben. Auch wenn es nur die Influenza ist, wusste ich, dass er bei Ihnen in guten Händen ist.«
»Tut mir leid, dass ich gestern Nacht Cole Braddock zu Ihnen schicken musste, aber ich dachte, Sie sollten über die Situation Bescheid wissen.«
»Trotzdem, es ist ja nur die Grippe«, beharrte er. »Das ist doch nicht so schlimm, oder? Nicht bei einem jungen Mann wie Ed. Jeder hat mal die Grippe. Mich hat’s letztes Frühjahr erwischt. Und jetzt, wo ich darüber nachdenke, Cole auch. Ich weiß esnoch, weil Susannah ihn praktisch ans Bett binden musste, damit er nicht zur Arbeit ging. Sie hat gemeint, je früher er wieder auf den Beinen sei, desto besser für sie alle. Die meisten sind wieder gesund geworden.« Stirnrunzelnd fügte er hinzu: »Bis auf Doktor Vandermeer und Eph Jacobsen, aber sie waren ja auch schon älter.«
»Nur dass wir es hier vielleicht nicht bloß mit einer normalen Grippe zu tun haben.«
»Pah, ich habe gehört, dass an der Ostküste irgend so eine Spanische Grippe ausgebrochen ist, aber da drüben sind alle in den verrauchten Fabriken mit den ganzen Maschinen zusammengepfercht. Das wissen Sie ja besser als wir.« Er machte mit seiner großen Bauernhand eine vage Geste. »Hier ist der liebe Gott zu Hause – saubere Luft, einfache Lebensart, alles offen und weit.«
Von oben drang Eddies jämmerlicher, gurgelnder Husten zu ihnen, ein nervenzermürbendes, hoffnungsloses Geräusch. Er hatte die ganze Nacht durchgehustet und kaum ein Auge zugemacht. Als Horace zum Treppenabsatz blickte, nahmen seine Augen einen besorgten Ausdruck an. »Ed ist stark, er ist im Nu wieder gesund.« Doch er klang nicht mehr ganz so überzeugt.
Jess straffte die Schultern, ebenso sehr, um die Müdigkeit und Anspannung darin zu lösen, wie um ihm Mut zu machen. »Das hoffe ich wirklich, Mr. Cookson. Ich tue alles, was ich kann.«
»Helen hat auf der Ladefläche ein Bett für ihn aufgeschlagen, damit wir ihn nach Hause holen können.«
»Im Augenblick sollte er lieber nicht transportiert werden«, entgegnete sie in dem ruhigen Ton, den sie für schlechte Nachrichten reserviert hatte. »Ich wollte, dass Cole ihn gestern Nacht nach Hause bringt. Aber dann ist er hier im Wartezimmer zusammengebrochen – nun, ich denke, es wäre das Beste für ihn, eine Weile hierzubleiben, wenigstens bis das Fieber sinkt. Inzwischen können Sie Camp Lewis informieren, wo er ist.« Sie erwähnte bewusst nicht, dass Eddie ihrer Meinung nach den Höhepunkt des Fiebers noch gar nicht erreicht hatte. Doch wenigstens hatte Horace jetzt erkannt, wie ernst es um seinen Sohn stand.
Die Augen immer noch zur Treppe gerichtet, sagte er: »Ich … oh … natürlich … Ich glaube, ich gehe mal rauf und besuche ihn kurz.« Er schlurfte zur Treppe.
Jess nickte und setzte sich auf einen in der Nähe stehenden Stuhl. Die Müdigkeit lastete
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