Heimkehr am Morgen (German Edition)
nie etwas Derartiges gesehen. Nach Jessicas Miene zu schließen, sie anscheinend auch nicht.
Als sie ihn im Bett hatten, zwängte Jess eine Pille in Eddies Mund. Haare hatten sich aus ihrem Knoten gelöst, und blonde Locken ringelten sich um ihr Gesicht. »Das Morphium dürfte gegen den Husten und die Schmerzen helfen.«
»Was kannst du sonst noch für ihn tun?«, fragte Cole und setzte sich auf das andere, leere Bett.
»Ich werde ihn untersuchen, um herauszufinden, welche Systeme involviert sind.« Sie sah zu ihm auf. »Ich meine, wie viel von seinem Körper betroffen ist. Haben die Cooksons einen Telefonapparat?«
»Ich weiß es nicht. Wir habe einen auf der Farm, weil wir an der Hauptstraße liegen, aber Birdeen arbeitet nur tagsüber, deshalb kann niemand den Anruf durchstellen. Angeblich soll eine Nachttelefonistin eingestellt werden, bis jetzt ist allerdings nichts passiert.«
Sie strich sich die vorwitzigen Strähnen aus dem Gesicht. »Na schön. Es wäre mir eine große Hilfe, wenn du seine Familie benachrichtigen könntest, dass er hier ist.« Ihre Worte wurden durch Eddies Husten unterbrochen. Als sie ihn betrachtete, nahm ihre Miene den Ausdruck blanken Entsetzens an.
»Was ist?«
»Oh Gott …« Sie starrte auf das zitternde, murmelnde Bündel im Bett.
»
Was denn?
Was ist los?«
Sie erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Leroy Fenton und dem Telegramm, das sie bekommen hatte. »Eigentlich wollte ich am Samstag den Zug nach Seattle nehmen. Ich dachte, Powell Springs würde bis zur Ankunft von Dr. Pearson durchhalten. Aber wenn diese Epidemie so ansteckend ist, wie es sich anhört – Cole, dieser Junge hat in den letzten zwei Tagen wahrscheinlich mit so gut wie jedem Einwohner dieser Stadt gesprochen. Wer weiß, wieviele Menschen dem Erreger ausgesetzt waren? Wem er die Hand geschüttelt hat, wen er angehaucht hat? Die Kinder und die älteren Leute hier werden es auch bekommen.«
»Also hatten all die Männer bei Tilly’s, die nicht helfen wollten …«
»Sie erkranken vielleicht sowieso, zusammen mit vielen anderen.«
»Und wir?«
Sie seufzte. »Ja, obwohl wir unser Möglichstes tun können, um es zu verhindern. Geh jetzt gleich nach unten ins Arbeitszimmer und wasch dir die Hände mit heißer Seifenlauge. Fass dir bis dahin nicht ins Gesicht. Ich muss mit dem Krankenhaus in Seattle Kontakt aufnehmen und mir Informationen beschaffen. Vielleicht auch mit dem Roten Kreuz.«
Als er aufstand, quietschten die Bettfedern. Er konnte ihre Entschlossenheit nur bewundern. Sie war genauso tatkräftig und resolut wie eh und je, womit sie bei manchen Männern aneckte, was ihn jedoch, der einen ebenso starken Willen besaß wie sie, stets angezogen hatte.
Sie folgte ihm die Treppe hinunter und wartete, bis er sich die Hände gewaschen hatte, dann tat sie es ihm nach.
»Brauchst du Hilfe für Cooksons Pflege? Soll ich Granny Mae holen?«
»Gott, nein«, murmelte Jess und trocknete sich die Hände mit einem sauberen Handtuch.
»Kommst du allein klar?«
Sie sah ihn fragend an. »Was glaubst du, was ich die ganze Zeit in New York gemacht habe, Cole?«
New York, New York,
New York
. Er runzelte die Stirn, weil er nicht mehr daran erinnert werden wollte, warum alles so schiefgelaufen war. Plötzlich wurde er sich bewusst, unter welcher Anspannung er lebte, hervorgerufen durch den Krieg, durch Pop, durch so viele andere Dinge. Was hatte Jess in New York gefunden, das sie davon abgehalten hatte, wie versprochen nach Hause zu kommen? Was war passiert, dass sie ihre Beziehung abgebrochen hatte? Diese Frage, die er in den hintersten Winkel seines Gedächtnissesverbannt hatte, beherrschte seit ihrer Rückkehr nach Powell Springs all seine Gedanken. »Das frage ich mich schon seit zwei Jahren. Was
hast
du dort gemacht?«
Cole trat näher zu Jess. Sein Gesicht, plötzlich gerötet und beinahe zornig, war ganz dicht vor ihrem. Einen Augenblick dachte sie, er würde sie entweder schütteln oder küssen. Aber offenbar wartete er nur auf eine Antwort. Die Spannung zwischen ihnen war wie elektrischer Strom, knisternd und gefährlich. Überrascht durch den plötzlichen Themenwechsel oder auch durch das Gefühl, dass in ihren Adern heißer Honig floss, wich sie zurück, zutiefst verärgert, dass er ausgerechnet jetzt damit anfing. Sie wandte sich ab und begann nervös und fahrig, den Tisch aufzuräumen, wo sie Eddies Tabletten hergestellt hatte.
»Ich habe oben einen sehr kranken Patienten, und du solltest seiner
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