Heimkehr am Morgen (German Edition)
Familie Bescheid geben, wo er ist. Warum um alles in der Welt müssen wir ausgerechnet jetzt darüber reden?«
»Du fängst doch immer wieder damit an, Jess. Die ganze Zeit erzählst du mir, wie toll es in New York war. Du hast mir geschrieben, du könntest nicht weggehen, deine Arbeit sei zu wichtig. Ich möchte einfach nur wissen, was so verdammt besonders daran war, dass du hier alles aufgegeben hast.«
Sie wirbelte herum, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich habe nie behauptet, dass es ›toll‹ war. Aber ja, die Arbeit war wichtig. Du kannst nicht wissen – ich kann dir nicht erklären, wie sehr – wie verzweifelt …« Stotternd brach sie ab und nahm ihre Tätigkeit wieder auf. Ihr Herz schien so heftig und schnell zu pochen wie das von Eddie, als sie seine Brust abgehört hatte.
»Und warum bist du dann nicht dort geblieben, wenn es dir so viel bedeutet hat? Warum hast du wegen einer anderen Stelle gekündigt?«
»Was kümmert dich das eigentlich?« entgegnete sie. »Du wirst Amy heiraten und eine glückliche Familie haben. Was macht das jetzt noch für einen Unterschied?«
Kurz dachte sie, er würde mit der Faust auf den Tisch schlagen, aber stattdessen hob er die Hände und holte tief Luft. SeinGesicht nahm den unfreundlichen, versteinerten Ausdruck an, an den sie sich schon gewöhnt hatte. »Gar keinen. Ich gebe Horace Bescheid.« Daraufhin stiefelte er mit knallenden Absätzen davon. Gleich darauf hörte sie die Haustür zufallen.
Einen Augenblick später wurde der Lastwagen angelassen, und Cole war fort.
Kapitel 8
Es wurde eine ziemlich lange Nacht für Jessica. Alle zwei Stunden verabreichte sie Eddie die Pillen. Manche konnte er sogar bei sich behalten. Aber falls sie überhaupt wirkten, dann nur minimal. Sie legte sich nicht ins Bett, sondern setzte sich in ihrer Wohnung auf einen Stuhl und ließ beide Türen offen, damit sie ihn hören konnte. Nicht dass das nötig gewesen wäre, sein Husten klang so durchdringend, dass man meinte, er könnte damit den Dachstuhl anheben. In jenen Zwischenpausen, wenn sie in ihrer kleinen Küche saß, Kaffee trank und sich eine Behandlungsmöglichkeit überlegte, entwarf sie in Gedanken Telegramme an Dr. Martin im Allgemeinen Krankenhaus in Seattle und an das Büro des Roten Kreuzes, das im Jahr zuvor in Portland eröffnet worden war. Zwar musste sie Dr. Martin in erster Linie erklären, warum sie nicht so bald wie erwartet nach Washington kommen konnte, doch sie wollte ihn auch um die neuesten Informationen über die Grippe bitten, die im Begriff war, ihre Heimatstadt heimzusuchen.
Dadurch waren ihre Gedanken wenigstens mit etwas anderem beschäftigt als mit der Frage, warum Cole immer noch eine solche Wirkung auf sie ausübte.
Sie trank ihren Kaffee bitter und schwarz. Zucker und Sahne waren Luxusgüter und heutzutage schwer zu bekommen; tatsächlich wurde es sogar als Ehrensache betrachtet, ohne diese Annehmlichkeiten auszukommen, und es galt als Schande, etwas zu verbrauchen, das für die Truppe gedacht war. Ihre Hände zitterten vor Müdigkeit und Koffein, während sie gegen die Welle der Selbstvorwürfe ankämpfte, die sie zu überwältigen drohte.
Wie hatte sie sich derart in ihrem Schneckenhaus verkriechen können, dass sie überhaupt nicht mehr mitbekam, was in der Welt um sie herum vor sich ging? Wie konnte es vollkommen an ihr vorbeigehen, dass diese Krankheit bereits unter der Zivilbevölkerung grassierte?
Sie kannte die Antwort, doch das war kein Trost, und es war eine Entschuldigung, die sie nicht gelten ließ.
Ja, die Erinnerungen an die hilflosen Menschen in den Mietskasernen quälten sie noch immer. Trotzdem, die Würfel waren schon vor Jahren gefallen. Mit ihrer Entscheidung, Ärztin zu werden, hatte sie stillschweigend akzeptiert, dass man das Schlechte ebenso hinnehmen musste wie das Gute. Mit menschlichem Leid umzugehen gehörte zu ihrem Beruf. Man konnte nicht jedes Leben retten. Und selbst wenn es gelang, war es für die Betroffenen nicht immer positiv.
Nur dass es eben so
viele
gegeben hatte, die nicht gerettet werden konnten …
Aber ihre Selbstzerfleischung half ihr auch nicht weiter. Sie musste an dem Punkt weitermachen, wo sie aufgehört hatte, ihrer Berufung folgen und so viel wie möglich über diese Epidemie in Erfahrung bringen.
Erst spät zeichneten sich die bleichen Streifen der Morgendämmerung am schweren, bleigrauen Himmel ab, der Regen ankündigte. Gegen sieben hörte Jess ein scharfes Klopfen an der
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