Heimkehr am Morgen (German Edition)
Beschluss war sicherlich nicht einstimmig.«
Er rutschte auf seinem Stuhl herum. »Nicht direkt. Ehrlich gesagt bestanden gewisse Zweifel, weil Sie, na ja …« Er hielt inne. »Weil Sie eine Frau sind.« Jess hob die Augenbrauen und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Aber Ihr Vater war ein rechtschaffener Mann – er wurde sehr geschätzt. Und die meisten Leute hier kennen Sie schon ewig.« Jetzt lebte er auf. »Adam Jacobsen hat sich für Sie eingesetzt, und zwar ziemlich energisch. Natürlich zählt die Meinung des Ortspfarrers, eines Mannes, der sich so aktiv in der American Protective League engagiert – tja, er hat die anderen überzeugt.«
Die American Protective League, das hatte sie von Adam nicht anders erwartet. Jess erinnerte sich, wie er als Kind gewesen war, ein kleiner Jammerlappen, der alle bei seinem Vater, dem früheren Pfarrer, verpetzt hatte. Die American Protective League, ein Auswuchs von Präsident Wilsons Gesetz gegen Aufwiegelung, zählte über zweihunderttausend freiwillige Mitglieder, die es zu ihrer Sache machten, ihre Nachbarn auszuspionieren, Männer anzuzeigen, die sie für Drückeberger hielten, ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken, Verrat zu finden, wo keiner war, und Menschen zu schikanieren, die keine Kriegsanleihen kauften. Sie konnten andere wegen kritischer Äußerungen über den Krieg einsperren lassen und begegneten jedermann mit Argwohn. Adams Unterstützung war daher unerwartet und eher unwillkommen.
»Aber ich bleibe doch nur etwas über eine Woche, um meine Schwester zu besuchen. Ich werde eine Forschungsstelle in Seattle antreten.«
»Hmm, ja, das könnte ein Problem werden, denn wir wissen ja nicht, wann Pearson kommt.«
»Nicht ›könnte‹. Es
ist
ein Problem. Man erwartet mich in Washington, das kann ich nicht aufschieben. Ich praktiziere nicht mehr als Ärztin.«
Er beugte sich vor, seine Miene war ernst und offen. »Dr. Layton … Jessica … Ich weiß, das ist jetzt ziemlich viel verlangt, aber Sie haben die Situation mit Ed so gut gemeistert. Granny Mae ist einfach nicht qualifiziert zur Behandlung von medizinischen Problemen. Sie hat mir das eine oder andere Mal geholfen, ein Kalb auf die Welt zu bringen, und mit kleineren Sachen wird sie wohl ganz gut fertig. Aber manche Menschen hier machen sich allmählich Sorgen, was bei dem nächsten richtigen Notfall passiert. Der arme alte Elvin Fowler sitzt den ganzen Tag auf seiner Veranda, seit er sich das Bein gebrochen hat, kein Arzt hat ihn behandelt. Es ist meine Aufgabe als Bürgermeister von Powell Springs dafür zu sorgen, dass die Bürger dieser Stadt ärztlichen Beistand bekommen.« Er suchte ihren Blick und hielt ihn fest. »Und ich glaube, Ihr Pa würde wollen, dass Sie in der Stunde der Not Ihrer Heimatstadt helfen.«
»Aber …« Jessicas Kiefer verkrampfte sich. Sie fühlte sich schuldig und ausgetrickst. Ja, selbstverständlich würde ihr Vater wollen, dass sie half. Er würde es sogar von ihr verlangen. Sie wollte weder in Powell Springs bleiben
noch
ihre neue Stelle am Allgemeinen Krankenhaus in Seattle gefährden. Und doch hatte der clevere Bürgermeister Cookson genau gewusst, was er sagen musste, um ihren Entschluss ins Wanken zu bringen. »Nun, ich …«, setzte sie an, sich der Last der Pflicht beugend, »ich denke – man hat mir sechs Wochen Zeit für den Umzug gewährt, einen Monat könnte ich also bleiben.« Dann fügte sie noch mit Nachdruck hinzu: »Aber danach werde ich abreisen, ob Dr. Pearson nun hier ist oder nicht.«
Der Bürgermeister lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und ein Hauch der Zufriedenheit oder auch Erleichterung ging über sein wettergegerbtes Gesicht. »Natürlich, das verstehe ich.«
»Vielleicht könnte ich wie heute Morgen die leere Praxis benutzen, das Haus meines Vaters steht ja nicht mehr zur Verfügung.«
Wenn er den bitteren Unterton hörte, den sie nicht hatte unterdrücken können, ließ der Bürgermeister es sich nicht anmerken. »Genau das hatte ich im Sinn! Wir haben zwar schon Dr. Pearsons Schild angebracht, aber das macht nichts. Wir sorgen dafür, dassSie gleich loslegen können, Sie müssen sich um nichts kümmern. Ich glaube nicht, dass es allzu viel zu tun geben wird, immerhin sind sie ja eigentlich hier, um Amy zu besuchen. Wir bringen Sie in der Wohnung unter, die wir für Dr. Pearson vorgesehen haben, und übernehmen die Kosten.
Sämtliche
Kosten.« Damit stand er auf und streckte ihr über den
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