Heimkehr am Morgen (German Edition)
Jess, mehr zu sich selbst.
Amys Lider flatterten, und sie öffnete die Augen. »Jessie.«
Mit diesem Kosenamen hatte ihre Mutter sie als kleines Mädchen immer angesprochen. Seit Jahren hatte sie niemand mehr so genannt. Jess wurde ganz eng in der Kehle und sie musste die Tränen zurückhalten, die ihr unter den Lidern brannten.
Sie drückte Amys Hand. »Ja, ich bin hier, Amy. Ich bin hier bei dir.«
Gequält durch den Husten und den Infekt war Amys Stimme kaum mehr als ein Krächzen. »Jessie … ich fühle mich so schlecht …«
»Ich weiß, Liebes. Wir tun alles, was wir können, damit es dir wieder besser geht.«
»Nein … ich meine, ich habe etwas getan … etwas ganz Schlimmes … Versprich … versprich mir, dass du es niemandem sagst. Wenn ich sterbe … sollst du wissen …«
Eine kalte, dunkle Ahnung erfasste Jessica und ließ sie erschauern. »W-was hast du getan?«
»Du sagst es aber …«
»Nein. Versprochen. Drei Finger darauf.« Jess legte drei Finger auf ihre Brust.
»Diese Porzellanschüssel … die aus England mit den Hüttensängern … Mutters Lieblingsschüssel …«
Jessica wartete, verwundert. »Schüssel?«
»Ich habe ihr gesagt … dass die Katze sie zerbrochen hat. Aber ich war es … bitte … erzähl es ihr nicht. Sie wäre so …« Ein Hustenanfall unterbrach ihre Beichte.
Jessica konnte ein Zittern in der Stimme nicht unterdrücken. »Das macht doch nichts. Nicht mehr.« Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit einem fiebernden Patienten zu diskutieren. Sie konnte von Glück reden, dass Amy sie überhaupt erkannte.
Mrs. Donaldson kam mit einem feuchten Tuch zurück. »Wie geht es ihr?«, flüsterte sie. Sie legte das Tuch auf Amys Stirn.
»Sie ist noch bei uns. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Sie denkt, dass sie noch klein ist.«
»Ich weiß.« Die Mundwinkel der Frau zogen sich nach unten und ihre Brauen nach oben, als sie wieder in Tränen ausbrach. »Sie hat mir erzählt, wie sehr sie Cole mag, aber er beachtet sie nicht, weil er zu sehr mit seinen ›Jungensachen‹ beschäftigt ist. Sie muss ihn schon damals geliebt haben. Es ist so romantisch, so tragisch.«
Jess rutschte auf dem Stuhl herum, denn plötzlich musste sie schuldbewusst an Coles Kuss denken. Aber mochte es auch noch so kindisch und kleinlich sein, ihr lag eine bissige Antwort auf der Zunge, die sie gerade noch zurückhalten konnte.
Ich habe ihn zuerst geliebt.
Ich liebe ihn immer noch.
»Verdammt, grabt schneller, Männer«, brüllte Leutnant Collier.
Granaten explodierten im kalten Morgengrauen um Riley und seine Kameraden herum, als ein Trommelfeuer der Deutschen auf sie herniederging. Sie gruben sich ein, hier in diesem Apfelgarten im Niemandsland des Argonnerwaldes gefangen. Er und einige andere, darunter Stoney, Kansas Pete und Bob Tompkins stießen ihre Schaufeln in den Boden. Gott sei Dank hatte er zuvor die obersten Knöpfe seiner Jacke geöffnet – bei der Arbeit kam man ins Schwitzen, und die enge Uniform machte es noch schlimmer. Die Erde flog von ihren Schaufeln und regnete auf sie herab, wenn die Granaten nervenzermürbend und ohrenbetäubend nah einschlugen. Schon oft hatte Riley gesehen, welchen Schaden ein solches Artilleriefeuer einem menschlichen Körper zufügen konnte, wenn sämtliche Körperteile in verschiedene Richtungen flogen. Bei einem derart vernichtenden Angriff waren ihre Stahlhelme nicht mehr wert als aus Zeitungspapier gefaltete Hüte. Er wagte seine Aufmerksamkeit nicht von seiner Arbeit abzuwenden, nur einmal blickte er hoch. Hinter einer schweren Rauchwolke, aufstiebender Erde und dem Schweiß, der seine Sicht verzerrte, sah er Männer wie Gerste im Hagelsturm umfallen, nur Meter von ihm entfernt. Durch einen Schleier aus Dreck und Ruß tauchte Whippy auf. Irgendwie schien er immer zu ahnen, woher die Kugeln kamen, und konnte ihnen ausweichen. Wie er so quer über das Niemandsland auf ihren Unterstand zurannte, erinnerte er Riley an einen Footballspieler, der im Zickzack zur Torlinie läuft. Links neben Whippy bekam ein französischer Soldat eine Kugel in den Hals und fiel um.
»Whippy«, schrie Riley, »Mach schnell!«
Ein weiterer Soldat warf die Arme nach oben, wie um sich zu ergeben, und kippte, in den Rücken getroffen, vornüber.
Grabt schneller … grabt schneller … oder es ist aus mit euch.
Riley beugte den Kopf und zog die Schultern ein. Er hatte in seiner Jugend eine Menge Ställe ausgemistet und andere
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