Heimkehr am Morgen (German Edition)
direkt fragen. Wenn er dem alten Herrn von dem Telegramm erzählte, das Jess ihm gezeigt hatte, würde er garantiert bei Tilly’s alles ausplaudern, und dann hätte Cole seinen größten Trumpf, die Geheimhaltung, verspielt. »Hättest du versucht, mir auszureden, sie zu heiraten?«
»Himmelherrgott noch mal, das hab ich doch! Ich hab dir gesagt, was ich davon halte. Hört mir hier denn gar niemand zu? Wenn man so alt ist wie ich, könnte man in seinem eigenen Haus wahrlich ein wenig mehr Respekt erwarten, und …«
So kam Cole nicht weiter. »Hast du irgendwas anderes gemacht, beispielsweise ein Telegramm geschickt?«, fragte Cole aufgebracht.
Pop sah jetzt ebenfalls aufgebracht und gleichzeitig vollkommen verwirrt aus. Er musterte Cole mit zusammengekniffenen Augen und polterte dann los: »Warum zum Teufel sollte ich das tun? Wir leben schließlich unter einem Dach! Glaubst du, ich mit meinen ächzenden Gelenken würde den ganzen Weg in die Stadt reiten und ein verdammtes Telegramm aufgeben, wenn ich’s dir auch einfach ins Gesicht sagen kann?« Er stemmte sich wieder aus dem Stuhl hoch. Offensichtlich war die Unterhaltung für ihn beendet. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist nicht mehr ganz richtig im Kopf.« Vor sich hin schimpfend humpelte er Richtung Wohnzimmer zu seinem Schaukelstuhl, vorbei an Susannah, die zurückkam, um das übrige Geschirr zu holen.
Cole strich Pop von der Liste der Verdächtigen. Der alte Herr mochte reizbar und starrsinnig sein, aber solche Täuschungsmanöver passten nicht zu ihm. Nichts an ihm war auch nur im Geringsten subtil.
»Isst du das noch?«, fragte Susannah.
Er betrachtete sein halb aufgegessenes Frühstück. »Vielleicht hole ich mir mittags was.«
Sie nickte. Als sie zu ihm hinüberfasste, um seinen Teller einzusammeln, zupfte Cole sie sanft am Ärmel. »Ich wollte dich vorhin nicht so anschnauzen. Wir machen uns alle Sorgen wegen Riley.«
Sie setzte sich abrupt hin, als hätten die Beine plötzlich unter ihr nachgegeben. Sogar ihre langen, dunklen Naturlocken wirkten schlaff. »Wie viel sollen wir denn noch ertragen?« Sie sah ihm ins Gesicht, ernst und prüfend, als wüsste er eine Antwort. »Erst der Krieg, dann die Influenza. Und nun weiß ich nicht, wo mein Mann steckt, und Amy ist krank.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie rieb mit der Fingerspitze über eine Kerbe in der Tischplatte, als könnte sie sie auf diese Weise ausradieren.
Cole war so sehr mit seinen eigenen Sorgen und Nöten beschäftigt gewesen, dass ihm gar nicht in den Sinn gekommen war, Amys Krankheit könnte Susannah derart zusetzen. »Bei Jess ist sie in besten Händen.«
»Ach, Cole, dort auf diesem Feldbett wirkt sie so zerbrechlich und hilflos. Sie ist meine beste Freundin. Ihre Gesellschaft tut mir gut, vor allem jetzt, wo Riley fort ist. Seit dem Tod ihres Vaters haben wir ständig zusammengesteckt.«
Das stimmte. Die beiden Frauen hatten ungefähr zu der Zeit Freundschaft geschlossen, als die Familie erfahren hatte, dass Jessica ihren Aufenthalt in New York verlängern würde. Obwohl er Amy seit der Kindheit kannte, hatte er sie erst dann richtig wahrgenommen.
War Susannah zu der Überzeugung gelangt, Amy würde eine bessere Ehefrau für ihn abgeben? War es ihr so wichtig gewesen, dass sie ein gefälschtes Telegramm geschickt hatte? Mein Gott, er musste der Sache auf den Grund gehen, und zwar schnell, sonst verdächtigte er hier noch jeden.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll, falls sie nicht wieder gesund wird. Und ich weiß nicht, was ich machen soll, falls Riley – ich weiß einfach nicht …« Ihre Stimme brach.
Er tätschelte ihr die Schulter, blieb jedoch stumm.
Cole wurde selbst mit jedem Tag ratloser.
Im Krankenhaus saß Jessica an ihrem Pult und versuchte, der Berge von Krankenakten Herr zu werden, die sich angesammelt hatten. Mangels Zeit und Unterstützung war ihr Verwaltungssystem nicht allzu ausgefeilt. Sie hatte drei Papierstapel für drei Typen von Patienten vor sich: akut krank, auf dem Weg der Besserung und verstorben. Der Stapel der genesenden Patienten enthielt nur wenige Blätter. Drei faustgroße Steine dienten als klobige Briefbeschwerer.
Bis jetzt hatte Powell Springs dreihundert Grippeopfer zu beklagen. In manchen Städten starben so viele Menschen an einem Tag. Doch momentan, im Krieg, lebten in dieser Gegend nur etwa viertausend Menschen, und es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass die Epidemie ihren
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