Heimkehr in Die Rothschildallee
Claudette erinnern. Erwin hatte ihr an seinem letzten Tag in der Heimat ein Bild von Moses mit einem Zauberstab in der einen Hand und einer weißen Fahne mit blauen Streifen und einem Davidstern in der anderen gemalt. Clara hatte ihrer Nichte die Geschichte vom kleinen Lord im marineblauen Samtanzug vorgelesen, und Claudette, damals neunzehn Jahre alt und noch bestens mit dem vertraut, was Kinder lieben, war mit ihrer Cousine in einem grasgrünen Flugzeug zu den Sternen geflogen.
Über die Bilder, die ihr kamen, wenn sie im Bett lag und der Schlaf sie nicht erlöste oder wenn sie im Keller saß und den Tod vom Himmel stürzen hörte, sprach Fanny noch nicht einmal mit Anna. Es quälte sie, dass sie ihren Bruder nicht mehr sah, wenn sie die Augen schloss, und dass die Stimme ihrer Mutter verstummt war. Auch schämte sie sich, weil sie kein einziges von den Gebeten mehr kannte, die sie einst am Familientisch und in der Schule gelernt hatte. In den Nächten ohne Gewissensnot und Angst begegnete Fanny ihrem Vater in Holland, der immer nur leise mit ihr gesprochen hatte, der aber wunderbar singen konnte und seine Tochter mit geheimnisvollen Kosenamen bedachte, die nur er und sie hatten aussprechen können. Auch die Kosenamen waren ihr entfallen. Einmal eilte der holländische Vater in einem Pferdeschlitten über das gefrorene Meer, um Fanny aus Deutschland zu holen. »Wie schön du geworden bist«, sagte er und kaufte ihr noch in der Nacht einen neuen Mantel. Den alten durfte sie ja nicht tragen, jeder hätte die Stelle gesehen, an der der gelbe Stern aufgenäht worden war.
Einmal erlebte Fanny, dass ihre Großmutter sie in einen Wald mit blühenden Kastanienbäumen führte und dort eine Büchse mit rosa Keksen auspackte. Doch der Traum explodierte in tausend todbringende Funken, ehe Fanny die Großmutter nach dem Großvater fragen konnte. Kehrte die Betäubte dann in die Welt zurück, in der solche Träume verboten waren, murmelte sie mit aller Kraft, die sie hatte, »Betsy und Johann Isidor Sternberg« vor sich hin. Unmittelbar nach der Trennung von ihrer Familie, schon in Sicherheit bei Anna und Hans, aber paralysiert von Angst und Schock, hatte Fanny Feuereisen nämlich das Wesentliche im Leben eines jüdischen Kindes begriffen: Es musste um jedes Stück seiner Vergangenheit kämpfen, wollte es nicht schon zu Lebzeiten tot sein.
Der einjährige Erwin verschlief wie seine Schwester Sophie die Luftangriffe, die seine Heimatstadt vernichteten. Er weinte selten, er krähte und lächelte, ohne dass einer mit ihm sprach. Trotz der ständig kleiner werdenden Lebensmittelrationen hatte der Junge rote, runde Friedensbacken. In den Kellernächten spielte er auf Fannys Schoß mit einer Kette, die sie ihm aus bunten Knöpfen gefädelt hatte. Selbst Frau Schmand, die nicht zurückschaute, wenn dies zu vermeiden war, bemerkte einmal: »Solche Ketten habe ich als Kind auch gefädelt. Ich hatte immer die schönsten Knöpfe. Meine Mutter war Schneiderin. «
Beim Angriff vom 18. März wurden die Paulskirche und das Liebieghaus, das Städel, das prächtige Palais Thurn und Taxis, die Großmarkthalle und mehrere Krankenhäuser getroffen. Der Dom, das Dominikanerkloster, die gesamte Altstadt und Wohnhäuser in allen Stadtgebieten brannten. Die Menschen hatten nicht mehr die Kraft, zu klagen. Das Leben verlor sein Gesicht, das Wort Zukunft seine Bedeutung. Frankfurt starb noch vor dem letzten Todesschlag.
Gudrun Schmand rief nach Vergeltung. Sie forderte von Gott, dass er den Feind vernichtete, und von ihrem Vaterland Kampfesmut und Durchhaltewillen. Über die Lage in Frankfurt referierte sie nicht mehr. Die treue Dienerin ihres Führers wies die Bewohner der Thüringer Straße 11, die Kundinnen beim Bäcker und die graugesichtigen Hausfrauen, die beim Kaufmann Habermann für das Lebensnotwendige Schlange standen, in flammenden Reden darauf hin, dass Deutschlands große Stunde unmittelbar bevorstünde. »Dann möchte ich nicht in dem fetten Churchill seine Haut stecken«, sagte sie und leckte ihre Lippen, als hätte sie einen krossen Schweinebraten mit Kartoffelklößen und Specksoße auf den Tisch gebracht.
Der Kalender zeigte den 22. März 1944 an. Unter dem Datum stand ein Spruch aus der Edda: »Treu leben, trotzend kämpfen, lachend sterben.« Auf der Rückseite waren ein Rezept für einen Brotaufstrich aus Gerstengrütze und die Empfehlung eines Arztes, »möglichst mehrmals in der Woche Eier durch Eiaustauschstoffe zu
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