Heimkehr in Die Rothschildallee
ersetzen«. Frau Blockwart war an diesem Mittwoch nicht nach Eiern zumute. Sie war auffallend still und blass. Nachdem sie ihren Platz im Keller eingenommen hatte, schmierte sie keine Schmalzbrote, sie schraubte noch nicht einmal das Glas mit der Aufschrift »Achtung, Gift!« auf – ein Einfall von Eberhardt, dem lustigen Sohn, bei seinem letzten Heimatbesuch. Frau Schmand holte lediglich einen Apfel aus ihrer Vorratstasche, hielt ihn mit nachdenklichem Blick gegen das trübe Kellerlicht, schälte ihn aber nicht. Es war absolut nicht so, wie sie sofort klarstellte, als ihr die forschenden Blicke ihrer Kellernachbarn auffielen, dass sie einen Luftangriff wie den fürchterlichen vor vier Tagen befürchtete. »Das wahrhaftig nicht«, betonte die Unerschütterliche. Sie hob ihre Rechte wie eine, die vor Gericht steht und schwört, sie werde nichts als die Wahrheit sagen.
Für Gudrun Schmand blieb die Welt intakt. In dieser Welt von Illusion und Selbstbetrug gab es weder Schutt noch Asche. Da färbte sich kein Himmel feuerrot, keine deutsche Stadt duckte sich unter den Todesschlägen. Menschen, die starben, starben für Deutschland. Leute wie Frau Schmand drückten ihre Augen zu und verstopften ihre Ohren. Die zerstörten Häuser und aufgerissenen Straßen waren für sie vorübergehende Erscheinungen. Deutsche Heldenfrauen ließen sich nicht von der Anzahl der Toten einschüchtern, sie fühlten nicht mit denen, die kein Dach mehr über dem Kopf hatten, nicht mit den Müttern, die ihre Kinder nicht versorgen konnten, und nicht mit Menschen, die nicht wussten, woher sie einen Sarg für ihre Toten beschaffen sollten. Für Gudrun Schmand zählten auch im Untergang nur Pflicht, Führer, Volk und Vaterland. Obgleich diese versteinerte Germania einen Sohn in Russland verloren hatte und von dem anderen nicht wusste, ob er noch lebte, blieb sie eine deutsche Eiche, die im Sturm nicht wankte. Ihre Gemütslage in den Bombennächten beschrieb sie ausgerechnet als »bombenstark«.
»Der gönn ich alles Übel der Welt«, hatte sich Anna nach dem großen Angriff vom Samstag ausgemalt. »Erst soll sie der Schlag treffen, diese verdammte Hexe, und dann eine Bombe. Eine Bombe ganz für sich allein soll sie haben. Das wünsch ich ihr von Herzen.«
»Aber nicht im Luftschutzkeller«, machte Hans klar. »Die würde uns ja alle treffen.«
»Meinst du, Gott könnte so ungerecht sein?«
»Das meine ich. Beweist er uns nicht schon jahrelang, dass er mit Gerechtigkeit nichts am Hut hat?«
»Gut, dann soll sie der Schlag beim Scheißen treffen. Das hat Erwin immer gesagt, wenn er Wut hatte – allerdings nur, wenn Vater es nicht hörte. Ach Hans, manchmal glaube ich, ich werde nie lernen, mit meinen Erinnerungen zu leben.«
»Du musst. Fanny wird dich nach der Familie fragen. Sie hat das Recht auf Antwort.«
Am 22. März, als Frau Schmand so erholsam schweigsam war, war es nicht Deutschlands aussichtslose Lage, die ihr zu schaffen machte, sondern Halsschmerzen. In der Apotheke hatte sie noch nicht einmal mehr Emser Pastillen oder ein Gurgelmittel bekommen. Nur den Rat, Lindenblütentee zu trinken und kräftig zu schwitzen. »Eigentlich wollte ich oben im Bett bleiben«, erzählte die Unpässliche. Sie zupfte an dem braunen Wollstrumpf, den sie um ihren Hals gewickelt hatte. »Unten drunter warmes Gänsefett«, belehrte sie, »das hilft besser als jeder Doktor. Das hat schon meine Großmutter mit uns Kindern gemacht, wenn wir krank waren. Gänsefett ist ein todsicheres Heilmittel, hat sie immer gesagt.«
»Komisch, wir haben das Gänsefett immer gegessen, wenn wir mal welches hatten«, erwiderte Hans, »das hat zwar bei Halsschmerzen nicht die Bohne geholfen, aber es hat uns satt gemacht. So ist das bei den armen Leut’, Frau Schmand. Sie sind dumm und unbelehrbar und verfressen. Futtern die Medizin auf, die ihnen helfen soll, und wundern sich, dass sie wie eine Dampfmaschine rotzen.«
Anna zupfte ihren Mann unauffällig am Ärmel – wenn Hans gereizt war, vergaß er jegliche Vorsicht. Sobald die Wut ihn beutelte, war er imstande, sich um Kopf und Kragen zu reden. Anna stellte ihren Fuß auf seinen gesunden; sie schaute in Richtung von Frau Schmands Grünen Bohnen und ihrem gefürchteten Notizbuch, das im Hause Dietz nur die »Denunziationskladde« genannt wurde. Hans war den ganzen Abend schlecht gestimmt gewesen und wollte beim Alarm nicht einmal in den Keller gehen. Nun tat er so, als würde er nicht kapieren, was Anna von ihm
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