Heimkehr in Die Rothschildallee
von ihrem Leid erlöst. Die Löwen, während der Feuersbrunst ausgebrochen, mussten zum Schutz der Bevölkerung erschossen werden.
Das Haus in der Thüringer Straße 11 blieb vom Tod verschont. Die Mauern hielten stand. Nur die Fenster zerbarsten; weiße Stores, nun kohlschwarze Fetzen, hingen aus tiefen Höhlen heraus. Überall lagen Glassplitter und Teile der Rahmen. Die Haustür, lediglich leicht beschädigt, war auf die gegenüberliegende Straßenseite katapultiert worden. Auf ihr lag eine tote Katze. Blockwart Schmand, dem seine Mitbewohner mehrmals am Tag das Übelste vom Üblen wünschten und so manches Mal den Tod am Galgen, mit dem er selbst Kindern drohte, führte auf dem Speicher mit den Sandsäcken, die er seit fünf Jahren bunkerte, einen erfolgreichen Kampf gegen die Brandbomben.
Im Keller machten Höllenlärm und Feuerluft die seelenkranken Menschen blind und taub. Sie starben tausend Tode und flehten dennoch um ihr Leben. Frauen riefen in einem Atemzug nach Vergeltung und nach Gottes Beistand. Zwei Männer, zu alt und schwach, um im Bombenhagel Dienst zu tun, wähnten sich zurück in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Sie schrien, als Nächstes käme das Giftgas, und beteten, der Tod möge zu ihnen kommen. Hans Dietz hielt seinen Sohn fest umklammert; er flüsterte ihm ein Geheimnis ins Ohr, das Frau Schmand auch in Zeiten von Daseinsnot und Lebensgefahr nicht hören durfte. Ihre mit Schrankpapier abgedeckten Regale verloren den Halt. Die Einweckgläser mit den kostbaren Grünen Bohnen für den vermissten Kriegersohn fielen samt dem Notizbuch und dem Bleistiftstumpf, mit denen sie für die gute Stimmung an der Heimatfront kämpfte, auf den Boden. Eine junge Kriegerwitwe mit drei Kindern schrie mit der ganzen Kraft ihrer Lunge: »Jetzt haben Sie Ihre Wunderwaffe, Frau Blockwart Schmand!«
»Sei still«, befahl ihr zehnjähriger Sohn. Er hielt seiner Mutter den Mund zu und flüsterte: »Das darfst du nicht sagen.«
Mitten im Feuersturm fragte eine durchdringende Unschuldsstimme: »Bin ich tot?« Mit dem Rüschenrock ihrer einbeinigen Puppe rieb sie sich den Schweiß von der Stirn.
»Nein, Sophie«, beruhigte sie Fanny. Ausgerechnet in dem Moment, da die Welt auseinanderbrach, begriff sie, dass Lügen, die sein müssen, weder Sünde noch Feigheit sind. »Kinder sterben nicht«, sagte sie, »das hat der liebe Gott verboten.«
Lange Zeit hatten viele Menschen nicht wahrhaben wollen, dass es in Deutschland die Zivilbevölkerung sein würde, die die Rechnung für die deutschen Bomben auf Rotterdam, Coventry und London würde zahlen müssen. Fassungslos, dass die Alliierten nun Gleiches mit Gleichem vergolten und das mit wesentlich mehr militärischer Schlagkraft, flohen viele aus der Stadt – wie die hilflosen Menschen im Mittelalter vor Feuersbrünsten und Seuchen. Die Flüchtenden hofften auf Rettung in Dörfern und bei Verwandten. Sie setzten selbst auf die, mit denen sie seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatten. Wer alles verloren hatte außer seinem Leben, war noch bereit, an die Einigkeit des deutschen Volks zu glauben. Wie Ertrinkende an das rettende Seil klammerten sich die Ausgebombten an die immergrüne Hoffnung, dass Menschen in Not Liebe und Brot zuteil werden wird.
Hans und Anna Dietz packten keine Koffer. Obwohl sie seit drei Jahren Tag für Tag bewiesen, zu welcher Opferbereitschaft Menschen fähig sind, glaubten sie nicht an die Mär von der Selbstlosigkeit der deutschen Bauern. Ihre Angst, auf dem Dorf könnten der Bürgermeister oder seine Untergebenen nach Fannys Papieren und ihrer Herkunft fragen, war größer als ihr Sicherheitsbedürfnis. Auf dem Dorf ließ sich schnell entdecken, was man in der Großstadt hatte verschleiern können. In Frankfurt stellte selbst Frau Schmand keine Fragen mehr.
»Müsst ihr wegen mir hier in der Stadt bleiben?«, schwante es Fanny.
»Nein«, beschwichtigte sie Hans, »wir würden auch so nicht gehen.«
Der Angriff vom 24. März 1944 erfolgte morgens um neun. Es waren einhundertfünfundsiebzig amerikanische Maschinen, die die Ruinen der Trümmerstadt Frankfurt einebneten. Die Bomben töteten Bergungsmannschaften und trafen auch die Särge mit den Toten, die reihenweise auf den Gleisen standen, um abgeholt zu werden. Sie brachten Frauen, Kindern und den Alten, die in der Nähe des Hauptbahnhofs auf ihre Evakuierung warteten, den Tod.
Die Ausgebombten, Hilfsmannschaften aus ganz Südwestdeutschland, die man nach Frankfurt schaffte,
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