Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
wollte. Er starrte weiter Frau Schmand an, wobei er zwei Mal fest auf seine Beinprothese klopfte, um an das Opfer zu erinnern, das er seinem Vaterland gebracht hatte.
    »Nein«, krähte der kleine Erwin. Er hatte vor zwei Wochen zum ersten Mal »Nein« gesagt und seitdem mit Wonne bewiesen, dass er Vaters Sohn und allzeit zum Widerspruch bereit war. Obwohl dieser Vater gelernt hatte, was in Deutschland aus der Lust der freien Meinungsäußerung zu werden vermochte, weigerte er sich, das Schweigen zu erlernen. Je heftiger die Luftangriffe wurden und je größer die Verzweiflung der Menschen, desto mehr Äußerungen machte er, die als »wehrkraftzersetzend« galten und die Denunzianten wie das Ehepaar Schmand dazu brachten, Familienväter und Greise, junge Mütter und Halbwüchsige anzuzeigen.
    »Nein«, sagte Erwin noch einmal.
    »Du kommst in die Mülltonne«, drohte Fanny mit erhobenem Finger.
    »Keineswegs, mein Kind«, schalt sie Hans, »der Führer braucht Deutschlands Söhne.«
    »Nein«, widersprach Erwin.
    Der Tag war ruhig gewesen. »Friedensmäßig ruhig. Fast schon Frühling«, hatte Anna gesagt, als sie abends den Brotgulasch mit Rotkraut auf den Küchentisch gestellt und in einem Anfall von Fröhlichkeit, den sie sich nicht erklären konnte, den alten Zungenbrecher »Rotkohl bleibt Rotkohl« rezitiert hatte. Die Kinder hatten gelacht und Hans gegrinst, als hätte sie einen Männerwitz gemacht. Selbst Fanny, am Familientisch für gewöhnlich in sich zurückgezogen und schweigsam, hatte gelächelt. Sie hatte »Blaukraut bleibt Blaukraut« gesagt und dann nach einer Weile hinzugefügt: »Das hat mir Onkel Erwin beigebracht. Ich hab’s gleich gekonnt. Damals.«
    Zwei Tauben hatten sich von der Wärme des Tages verleiten lassen, auf dem winzigen Balkon, auf dem die Hausfrau Schnittlauch und Petersilie und im Sommer auch Tomaten zu ziehen versuchte, von Liebe und vom Frieden zu gurren. »Arme Irre«, hatte Hans gesagt, »die täuschen sich auf der ganzen Linie. Friedenstauben gibt’s seit Noah nicht mehr. Und Liebe nur auf Sonderzuteilung. Parteigenossen, Frontkämpfer und Frauen mit dem Mutterkreuz in Gold hervortreten. Augen auf, Maul halten.«
    Wie sonst auch, hatte der Rundfunk um Viertel nach acht sein Abendprogramm begonnen. Durch einen fatalen Irrtum hatte er die achthundert britischen Lancaster-, Halifax- und Mosquitobomber, die Kurs auf Frankfurt genommen hatten, überhaupt nicht erwähnt. Es war nur von einem einzigen alliierten Bomber die Rede gewesen, der auf Frankfurt zufliegen würde. »Hoffentlich wird’s dem nicht einsam«, hatte Hans noch gescherzt, »in der Nacht ist ein Flugzeug nicht gern allein.«
    Viele Menschen in der zerstörten Stadt gingen davon aus, die Nacht würde ihnen so gnädig sein wie der Tag und würde die verschonen, die am Ende ihrer Kräfte waren. Sie vertrauten ihrem Fatalistenmut, gingen nicht in die Luftschutzkeller und blieben in ihren Wohnungen. Nicht nur die Optimisten und Leichtsinnigen täuschten sich, nicht allein die Kurzsichtigen, die Wunschdenker und die zu Tode Erschöpften. Auch die Luftabwehr irrte. Sie ließ sich von einem Scheinangriff der Alliierten auf Kassel täuschen. Als endlich um Viertel vor zehn der Alarm für Frankfurt ausgelöst wurde, hatte der Tod die Stadt schon fest im Würgegriff.
    Die Bomber warfen ihre Fracht in drei Wellen ab. Als sie abzogen, war Frankfurt, die Stadt mit der stolzen Bürgertradition und den in ganz Deutschland bewunderten Fachwerkhäusern, im Feuerorkan untergegangen. An Goethes 112. Todestag wurde seine Heimatstadt zur Trümmerwüste geschlagen. Sein Geburtshaus im Hirschgraben, die Pilgerstätte der literarischen Welt, gab es nicht mehr. Die gesamte westliche Altstadt brannte. Zerstört wurden die Hauptwache, Schillerstraße, Börse, Hauptpost und der Römer. Die imposanten Geschäftsgebäude auf der Zeil standen in Flammen, Wohnhäuser im Nord- und Ostend wurden tödlich getroffen, ebenso die in Bockenheim und Rödelheim. Ganze Straßenzüge gingen in Flammen auf. Die Energieversorgung brach zusammen, Kanalnetze, Straßen und Schienenwege wurden aufgerissen. Menschen erstickten und verbrannten. Tote verkohlten und sahen aus, als wären sie nie Menschen gewesen.
    Die Stadt am Abgrund erlebte ihre größte Katastrophe seit dem Mittelalter. Mit den Menschen starben die Tiere. Der Frankfurter Zoo wurde flach gebombt. In Panik brüllende Raubkatzen, verendende Menschenaffen, Hirsche und Bären wurden durch Gnadenschüsse

Weitere Kostenlose Bücher