Heimliche Helden
unterwegs?
Form, Historie und »Ich«
Das mehr als 800 Jahre alte Nibelungenepos erzählt von der komplexen Anordnung einer Welt im Umbruch. Hunderte von Figuren statten das Drama mit Kampfes- und Feierkörpern aus; einige wenige Protagonisten bestimmen das Geschehen. Sie tragen Zeichen der Auserwähltheit und Individualität, sie entwickeln verschiedene und verschieden starke Obsessionen, für die sie mehr oder minder geeignete Werkzeuge in die Hände bekommen.
Das hochmittelalterliche Lied setzt auf Wiederholung und einen einfachen Grundbeat: Jeder Vers der vierzeiligen Strophen besteht aus einem Anvers aus vier betonten Silben und einem Abvers mit drei Betonungen. Nur der vierte Vers ist auch im Abvers vierhebig, sodass die Strophe sich besonders gut schließt. Die Ritterliteratur um König Artus hingegen, die ebenfalls zu Beginn des 13. Jahrhunderts entsteht, wird in durchlaufenden Verspaaren erzählt, sie wirkt dadurch glatter. Das Nibelungenlied , alt im Stoff, verwendet eine sangbare (nicht unbedingt gesungene), klar zäsurierte Form. Der Stil wechselt zwischen schon damals eher altmodischen Ausdrücken und der kunstvollen Literatursprache der Höfe.
Handlung und Sound: Einführung der Hauptfiguren eins, zwei, drei. Erste Spannung, Kampfszene, Wahl der Ausstattung, Schlacht. Töten, Feiern, Liebe, erneuter Kampf. Heute spräche man von gut gesetzten Plotpoints. Die Gegner variieren: 1000 Mann gegen 40 000 praktische Sachsen und tapfere Dänen, zwölf glänzende, in phantastische Gewänder gekleidete Recken aus den Niederlanden in Worms am Rhein. Oder: ein Zwerg und ein Riese. Und: Hagen, Onkel, Ratgeber, Spinne im Netz.
Dazu einer, der erzählt, wie schlimm es wird, wie viel Blut noch fließen wird. Er treibt den Zauber voran: Frauen kommen ins Spiel. Kriemhild, die (noch) Zahme, lebt als Mädchen zuhause in Worms, regiert von ihrer Mutter, drei Brüdern und dem höfischen Code. Sie ist es zufrieden, sich zu verlieben und den Mann ein Jahr lang aus den Fenstern ihrer Kemenate anzusehen. Brünhilde hingegen, Schlimmste und Schönste aller ›meiden‹, kann keiner überwinden außer dem fiesen Heldengespann Gunther und Siegfried. An dieser Stelle beginnt das alte Epos, das man nach den Nibelungen nennt, ohne dass es von ihnen handelte, die gemeine und herrliche, aufregende und schwierige Geschichte eines männlichen Heldentums zu erzählen, das ohne das weibliche nicht zu denken ist. Und umgekehrt.
Die historischen Wurzeln des Epos mögen in der Zeit der Völkerwanderung liegen (Attila und seine Hunnen, der Untergang der Burgunder, die den Rhein verlassen); das Nibelungenlied nimmt sich jede Freiheit gegenüber diesem Stoff. Mythos, Historie, Erfindung und Phantasie sind ihm als Quellen gleichermaßen willkommen. Es erzählt eine alte Geschichte vom Haben und vom Zorn. Von Fortpflanzung und Zerstörung. Von Kriegen und ihrem Preis: was dafür bezahlt, was dabei gewonnen wird.
Die Gesellschaft des 13. Jahrhunderts steht uns fern. Wir bewundern Kathedralbauten, lauschen gregorianischem Gesang, knabbern am Hildegard-von-Bingen-Keks aus dem Biosupermarkt. Mittelalter: Fluchtraum von Imagination und Sage – mythisches Grundgemenge. Doch die Epen über die Nibelungen oder die Ritter um König Artus erzählen viel aus der Wirklichkeit ihrer Zeit, wenn man es ihnen abzulauschen versteht.
Sie führen uns zurück in eine Gesellschaft, die kein Konzept einer Psyche des Menschen und ihrer inneren Ausprägungen kennt. Vor allem aber erzählen sie von Gemeinschaften vor der Bildung des Begriffes des Einzelnen. Das Mittelhochdeutsche kennt hier nur ein Wort, ›eine‹: Es heißt nicht ›einer sein‹, sondern ›allein – hilflos, elend, fremd‹ (eine, elline, ellen, ellende). Wer nur für sich ist, ist verlassen. In Gefahr. Man lebt auf dichtem Raum, es gelten die Horde, die Gruppe, das gemeinsame Ich. Solches Leben sich vorzustellen fällt schwer, wenn die Vorstellung mehr als ein Genrebild werden soll. Was mag es geheißen haben, in einem Gemeinwesen aufzuwachsen und zu leben, das den Einzelnen nicht kennt und nicht bezeichnet, das sich das Subjekt nicht vorstellt und es höchstens in Schuldenrechnungen vor Gott braucht, die man aber ebenfalls kollektiv handhabt – man verschuldet sich mit anderen und entbindet sich auch über sie. In seiner Monographie Der Glanz der Abstraktion leitet Peter Czerwinski aus Schlachtenbeschreibungen der hochmittelalterlichen Epik ab, wie der einzelne Menschenkörper als Teil
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