Heimliche Helden
»Küken« noch umsorgen. Zwei Erzählschichten, sagt man gern, schießen hier zusammen, höfische und archaisch-mythische Heldengeschichte. Das Drachenblutbad und die Unverletzlichkeit von Siegfrieds Haut sind ebenfalls als bekannt vorausgesetzt.
Man kann diese Elemente jedoch auch, und das kommt der mittelalterlichen Rezeption näher, als Simultaneitäten lesen, kann den Helden als Konstrukt statt als logisch-biographisches Subjekt begreifen, dem Avatar von vornherein verwandt: Der Held ist gemacht, er bedient sich, um zu entstehen wo auch immer er kann. Siegfried, für immer jung, schön, samt Schwert, Drachenhaut und Zwerg im Geschlepp. Mit Blut und Scheitern fing dieses Heldentum an. Mit Frauen setzt es sich fort.
Der Held als Simulakrum und Doppelung
Endlich, nach einem Jahr am Hof zu Worms und treuen Kriegsdiensten für die Burgunder, darf Siegfried Kriemhild sehen und sprechen. Man kann sich die Ausstattung für ein Bildschirmspiel bestens ausmalen: Kleider, Blumen, Geschmeide, Prunk. Doch auch Gunther braucht eine Frau. Hierfür wird eine neue Idee, wie menschliche Beziehungen zu ordnen sein könnten, ins Spiel gebracht. Das Stichwort heißt Freundschaft.
Bislang kannte das Nibelungenlied Kampf-, Verwandtschafts-, Vertrags- und Lehnsbeziehungen. Unter- und Überordnung bestimmen die höfische Welt. Sie sind (göttlich) vorgegeben, aber auch vom persönlichen Ethos und vom Kampfeswert des Einzelnen abhängig. Für Frauen und Männer gelten höchst unterschiedliche, allerdings parallel geführte Regeln. Die gleichrangigen Männer Gunther und Siegfried nähern sich einander als ›vriunt‹. Sie verbünden sich, schließen einen Vertrag per Handschlag. Siegfried hilft Gunther, die unüberwindliche Brünhilde zu erobern. Dafür darf er Kriemhild, Gunthers Schwester, heiraten. Nach außen tritt Siegfried bei Brünhilde als Gefolgsmann Gunthers auf – sonst würde sie Gunthers Werbung nicht akzeptieren. Das Zeug des Zwergs, die Tarnkappe, kommt zum Einsatz. Held ist der ausgestattete Mann mit Plan und List, der über magische Objekte verfügt.
Die Idee, Siegfried nach Island mitzunehmen, stammte von Hagen, dem Onkel der drei Königsbrüder in Worms. Er ist ein mächtiger Mann in dem auf Verwandtschaft gegründeten Herrschaftssystem der Burgunder, ein Stück Gedächtnis des Hofes, immer auf Gunthers Vorteil bedacht. Zu viert überquert man in einem kleinen Boot das Meer: Hagen selbst, sein Bruder Dankwart, der Brautwerber Gunther und sein »Mann« Siegfried. Die Ideen und Handlungen der Figuren aus Worms greifen ineinander – ein Heldentriumvirat ist unterwegs; das Boot fasst die vier Körper zu einem zusammen. Sie können individualisiert werden, und werden vom Text doch als eine Bewegung wahrgenommen. Dass nicht auffällt, dass Siegfried bei Brünhildes und Gunthers Wettkampf fehlt, erklärt sich aus diesem Ein-Körper-Sein.
Immer kleiner wird der Kreis der Eingeweihten, immer stärker weichen die Regeln des Verhaltens auf, immer weiter klaffen Anschein und Tun auseinander. Mit Brünhilde, der Schrecklichen, muss man sich im Wurf eines schweren Steins, in Weitsprung und Speerkampf messen. Gunther agiert – dem Anschein nach. Tatsächlich handelt der unter der Tarnkappe unsichtbare, mit zusätzlichen Kräften versehene Siegfried:
Sîfrit der was küene,vil kreftec unde lanc.
den stein den warf er verrer,dar zuo er wîter spranc.
von sînen schœnen listener hete kraft genuoc
daz er mit dem sprungeden künic Gunther doch truoc.
Der sprunc der was ergangen,der stein der was gelegen.
dô sach man ander niemenwan Gunther den degen.
Prünhilt diu schœnewart in zorne rôt.
Sîfrit hete geverretdes künic Guntheres tôt. 2
Gunther und Siegfried setzen die Heldenfrage des Nibelungenliedes perfekt in ein Bild um. Der eine macht die Bewegungen, die Taten vollzieht der andere. Der eine ist ein Simulakrum, der andere Muskel- und Mythoskraft. Wunderbar zeigt sich die Wahrheit des Helden, er ist einer – und ein zweiter, ein hybrides Gebilde aus sichtbarem Körper, unsichtbarem Körper, wirksamen Hilfsmitteln. Ein Ein-Vieler mit Absichten, Muskeln, Tücke und List.
Schon hier handeln Gunther und Siegfried zu zweit an der Frau. Die Situation aus Island setzt sich im Wormser Bettkampf fort und wird dort endgültig auf den Punkt gebracht: Er heißt »Ununterscheidbarkeit«. War es Gunther, war es Siegfried? Das Epos bleibt kunstvoll die Antwort schuldig; die Frage bewegt die Männer nicht.
Das mag erstaunen,
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