Heimspiel
zeitlebens mimt sie nur Mitte. Noch im Auto vermummt sie sich schwarz-weiß-rot.
Der Wagen fährt in die Tiefgarage der Commerzbank-Arena, an langen Reihen von Limousinen vorbei.
»Ich dachte, Fußball sei was fürs Volk«, sagt die Kanzlerin mit ironischem Unterton.
Netzer zieht sich die Mütze tief ins Gesicht und den Schal hoch bis an die Ohren. »Lassen Sie uns verkleiden.« Die Kanzlerin tut es ihm nach. Als sie aussteigen, erkennt man sie nicht mehr, vor allem auch weil sie, die als Einzelpersonen bekannt sind, als Paar herumlaufen. Netzer zeigt ihr, wie man Tickets mit dem Barcode in das elektronische Lesegerät schiebt, und sie hat ihren Spaß an der Technik. Barrieren dieser Art hat sie seit Jahren nicht mehr passieren müssen.
In den Gängen der Arena wird das Menschengedränge immer dichter, erste Fangesänge sind zu hören. Es riecht nach Mann, und alle hier tragen schwarz-weiß-rote Eintracht-Farben, sodass das Alberne daran schlagartig seine Wirkung verliert. Sie hakt sich, als das Gedränge besonders dicht wird, bei ihm ein, und er steuert sie zielsicher zur Westtribüne, dem schwarz vermummten Fanblock entgegen, wo bereits laute Schlachtenrufe die Stimmung prägen. Das Paar schiebt sich im Pulk der Masse einer riesigen Freitreppe entgegen und klimmt diese empor; schon nach zehn Stufen gerät sie außer Atem. Netzer verzögert den Schritt und lässt sie schnaufen, von hinten läuft ihr ein Kind wortlos in den Rücken, sie wankt und geht weiter. Hinter dem Fanblock warten Männertrauben auf den Spielbeginn, Testosteron im Fan-Gewand, die Lautstärke ist enorm. Die eine Hälfte von ihnen ist schon betrunken, die andere will es rasch werden.
Die Kanzlerin holt tief Luft und inhaliert die hessische Fan-Duftmischung aus Marihuana und Apfelweindunst. Lange Schlangen bilden sich vor dem Einlasstor zum Block, das breitschultrige Sicherheitspersonal nimmt Leibesvisitationen vor, ein ehemaliger Knastbruder mit Piercing am Hals und einer Tätowierung im Nacken tastet beide ab und presst ihre Oberkörper dabei, als seien die sein Boxsack aus dem Jugendgefängnis Preungesheim. Netzer schaut demonstrativ fort. Dann begibt sich das neue Fan-Paar neugierig zu seinen Plätzen in Block 40.
Die Kanzlerin trifft die Intensität der Stimmung wie ein Donnerschlag. Um sie herum schreien die Menschen, singen, grölen, lachen, umarmen sich, um im nächsten Moment wüste Parolen herauszuschreien und im übernächsten einen versöhnlichen Witz zu machen. Ernst und Spaß tanzen wilde Walzer. Die Banner der Bembelraver, der Calimeros Aschaffenburg, der Binding-Szene und der Brigade Nassau flattern. Die Ultras bereiten eine Choreografie mit schwarz-weißen Fahnen vor. Über die Stadionlautsprecher wird »Erbarmen, zu spät, die Hessen kommen« eingespielt, und alle singen lachend mit. In den Augen der Fans erkennt sie reine Emotionen. Auf Parteitagen hat sie die Ovationen immer als Gefühlszuwendung angenommen, nun aber sieht sie, was wahre Publikumsgefühle bedeuten.
Als kurz vor Spielbeginn die Vereinshymne »Im Herzen von Europa liegt mein Frankfurt am Main« intoniert wird, recken alle ihre Schals mit beiden Händen quer in die Luft wie Banner der Identifikation. Sie traut sich nicht, da mitzumachen, nicht weil ihr das Ritual merkwürdig vorkommt, sondern weil sie Sorge hat, ihre Maskerade zu lüften. Netzer hilft ihr, hält einen Drittschal empor, dessen anderes Ende sie ergreift und in die Luft streckt. Ein dickleibiger Stehnachbar legt seinen kiloschweren teigigen Arm auf ihre Schulter und singt dabei lauthals weiter:
»Der eine liebt sein Mädchen, und der andere liebt den Sport. Wir schwören auf die Eintracht auch mit unserm Ehrenwort …«
Sie ist ein wenig zu klein, um freie Sicht zu haben, aber sie erkennt doch Tausende, die alle ihren Schal hochhalten, und sie beschließt, dass es beim nächsten Parteitag Schals geben soll und vielleicht ein Parteitier. Denn sie beobachtet verblüfft, wie nach der Hymne tausendfach der Schrei »At-ti-la, At-ti-la« erschallt, als, wie zu Barbarossas Zeiten, ein leibhaftiger Adler über das Spielfeld getragen wird. Der stolze Vogel schlägt seine mächtigen Schwingen, und die Westkurve hebt die Arme.
»Das Symboltier der Frankfurter«, ruft Netzer ihr zu. »Die Kölner haben einen Geißbock!«
»Die Armen«, murmelt die Kanzlerin.
»Und Duisburg hat ein Zebra!«
Netzer muss schreien, damit sie ihn überhaupt versteht. Unten erfolgt der Anstoß, doch noch ist der zweite
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