Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
ein Personenschutz anstand, nahm er sich ein Thema vor, das er in all seinen Aspekten durchdenken wollte. Dann kam gar nicht erst Langeweile auf wie bei den Kollegen, die Wetten abschlössen in der Art, von welchem Baum zuerst 50 Blätter fallen würden.
Ganz besonders mochte Henry Ermittlungsarbeit, erstens, weil sie so selten war, zweitens, weil er da sein Gehirn brauchen konnte, wie ein Schachspieler, der eine Partie spielte, von der er die vorhergegangenen Züge noch nicht kannte, die Figuren erst kennenlernen musste und – wenn alles in seinem Sinne ging – nur die nächsten Züge mitbestimmen oder gar vorausbestimmen konnte. Das forderte seine Intelligenz. Diese Einsätze waren der Ansporn, seinem Beruf treu zu bleiben.
Sonntag, 17.9.2006
Als Bähler Hans, genannt Housi, am Eidgenössischen Buß- und Bettag auf der schmalen Straße von der Wildenalp runter in den Kurzengraben hinein fuhr, wie immer mit leicht überhöhter Geschwindigkeit, tauchte unvermutet ein blauer Wagen vor ihm auf. Housi hatte das Steuer nach der engen Kurve fest im Griff, war jedoch überrascht von der Langsamkeit des anderen Autos, dessen Lenker eine Abzweigung zu suchen schien, denn jetzt blinkte er rechts und fuhr an den Straßenrand.
Bähler setzte zum Überholen an. Auf gleicher Höhe mit dem alten VW Golf, das fiel ihm nun auf, beschleunigte der andere wieder und hielt das Tempo. Die beiden Wagen füllten die Breite der Straße bis auf wenige Zentimeter aus, und die steigende Geschwindigkeit verstärkte die plötzlich aufkommende Angst.
Im letzten Augenblick erkannte Housi die Gefahr. Er stand voll auf der Bremse, der andere, den er durch die dreckige Scheibe nicht erkannt hatte, schoss davon, schlenkerte nach links und gab Gas. Bähler bemerkte nun das abschüssige Ufer des Flüsschens, in das man ihn stoßen wollte. Er sah auch, dass der Widersacher keine Nummer an seinem Heck hatte. Dann brach Housi der Schweiß aus. Er fühlte jeden Tropfen, der über Stirn und Rücken rollte.
Montag, 18.9.2006
»Gestern haben sie den Bähler Housi gefunden in seinem Auto. Tot. In den Alphornbaum geprallt eingangs Kurzengraben, ungebremst aus einer Kurve heraus. Sagt man. Der Wagen ist völlig ausgebrannt. Die Feuerwehr brauchte eine halbe Stunde bis zum Unfallort. Da war nichts mehr zu machen. Da werden sie noch üben müssen, denn wenn es nicht ein bisschen schneller geht, brennt jeder Bauernhof bis auf die Grundmauern nieder. Und hat man dann noch Zeit, das Vieh zu retten?«
Graber Rudolf schüttete seine Milch in den Trichter über dem Einfüllstutzen. Sein Cousin Graber Ulrich stand in einem seiner rotkarierten Hemden vor der Käserei, stellte seine Kannen bereit und antwortete: »Ein Jammer um die Kühe, zum Glück ist man versichert, da wird der Schaden großzügig abgegolten, da kriegst du mehr als auf dem Schlachtviehmarkt.«
»Aber dann? Willst du neu aufbauen, wieder anfangen in diesen unsicheren Zeiten? Oder etwa mit dem Geld in die Stadt ziehen? So viel wird es nicht geben, dass sich das rechnet.«
»Der Bähler Housi, hast du gesagt? Der Einwäger von Moloko? Wen werden sie nun schicken zum Einkauf von Milch und Käse?«
»Was kümmert’s dich«, brummte Rudolf und strich sich mit der wettergegerbten Hand über sein weißes, schütteres Haar.
»War er nicht vorgestern noch bei euch, wegen der Milchkontrolle?«, fragte Ulrich.
»Ja, sicher. Wie immer alles sauber. Was willst du damit andeuten? Pass auf, dass die Kühe kein Blut in der Milch haben, wenn du schlecht über andere redest.«
Ulrich wehrte sich: »Ich hab nichts gesagt. Ich hab nur gefragt, ob der Bähler Housi nicht noch bei euch war vorgestern. Vor dem Unfall. Der ist ja anderntags auf der gegenüberliegenden Talseite geschehen. Ihr werdet nichts damit zu tun haben.«
»Macht vorwärts, Leute, der nächste bitte, die Käserei ist nicht bis Mitternacht geöffnet!«
»Etwas stimmt nicht bei diesem Unfall«, sagte der für den Kurzgraben zuständige Kantonspolizist Hermann Blaser zu seinem Langnauer Kollegen. »Die Spurensicherung empfiehlt den Beizug der Kriminalpolizei. Ich habe bereits mit Bern telefoniert.«
»Wo liegt das Problem?«, fragte Hans Zaugg.
»Gehen wir davon aus, dass der Fahrer mit überhöhter Geschwindigkeit in die Kurve hineinrast, geradewegs in die einzeln stehende Fichte, den einzigen Baum weit und breit.«
»Nun ja, das kommt immer wieder vor. Aber du hast recht. Nicht der Bähler Housi, der kennt jede Kurve im Emmental. Er
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